Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel
Begleitbuch
Das vorliegende Begleitbuch zur Sonderausstellung »Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel« der Privatsammlung von Würfeln des Leipzigers Jakob Gloger bietet einerseits eine „Ausstellung to go“, indem er die Ausstellungstexte und eine Auswahl wichtiger Exponate wiedergibt. Andererseits eröffnet er mit dem detailreichen Artikel von Ulrich Schädler eine Möglichkeit, noch tiefer in die Materie des Würfels einzusteigen. Begleiten Sie uns auf die Reise zurück zu den Anfängen des Spielwürfels und sehen Sie mit uns die Welt als Würfel!
Das zweisprachige Buch (deutsch-englisch) ist ausverkauft.
ZUM GELEIT
Dr. Anselm Hartinger
„Lasset uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wes er sein soll“ – so heißt es in der Bibel anlässlich der Verteilung des Rocks und der Kleider des gekreuzigten Jesu … Lauscht man dabei Johann Sebastian Bachs rätselhaft überlanger Vertonung dieses Spruches in seiner Leipziger Johannespassion, so wird unmittelbar klar, dass dieses „Losen“ eigentlich ein kollektives „Würfeln“ meint. Es steht so beispielhaft dafür, welche Bedeutung dem regulierten Zufall über das unterhaltsame Spiel hinaus schon immer als Medium des Konfliktaustrags und der Delegation von Entscheidungen an eine scheinbar unbeeinflussbare Instanz zukam. Versuchungen eines trickreich ausgeklügelten oder gar manipuliert „falschen“ Spiels lagen da stets nahe und ziehen sich als Anlässe für Wirtshausschlägereien und Ehrenstrafen durch so manche Novellen und Gerichtsakten der Frühen Neuzeit.
Dieses Heranziehen des Glücks als gottähnliche Ebene der Letztbestimmung war es neben der potentiellen Zügellosigkeit aller weltlichen Vergnügungen, die das Würfelspiel über Jahrhunderte hinweg als schandbare Sünde in den Fokus der theologisch-moralischen Kritik rücken ließ. Spätmittelalterliche Bilddarstellungen der nach erschröcklichen Bußpredigten zu Scheiterhaufen aufgeschichteten Backgammon-Bretter und Würfel sind in dieser Hinsicht eindrücklich. Sie zeigen ebenso wie zahlreiche archäologische Funde im Umkehrschluss aber auch, wie verbreitet derlei Spielutensilien waren. Zwischen einfachsten Knochenwürfeln und verfeinerten Luxusausführungen öffnete sich dabei ein weiter (Spiel-)Raum. Die in der Neuzeit nicht zuletzt in Leipzig entwickelten Automatenkonstruktionen hoben das alte Prinzip des Würfelturms auf stets höhere und mittlerweile auch digitale Ebenen. Dass sich auch die bereits erwähnte Musik immer wieder aleatorischer Strukturbildungen via Zahlenlotterie annahm, lässt sich an so unterschiedlichen Ausprägungen wie den Würfelpolonaisen des Rokoko sowie sowie einigen Werken von John Cage belegen.
Heute sehen wir das Würfeln als angenehm harmlose und gegenüber dem bloß virtuellen Gaming sogar besonders wertvolle – weil händischkommunikative und dabei immens traditionsbewusste – Bereicherung
nicht allein des familiären Alltags. Lernt man im unterhaltsamen Spiel doch zugleich für das Leben, sich an gemeinsam verabredete Regeln zu halten, nicht alles vorherbestimmen zu können und notfalls augenzwinkernd zu verlieren und entschlossen sein Glück neu zu versuchen. In diesem Sinne wird das Rollen der erwürfelten Augen noch lange und gewiss auch die Besucher dieser Ausstellung faszinieren.
Ein herzlicher Dank geht an das Vorbereitungsteam dieser Ausstellung, mit der wir im Zuge der erweiterten Präsentation einer Leipziger Privatsammlung auch strukturell neue Wege bestreiten. Im Namen der
Kerngruppe um Jakob Gloger, Tim Rood, Andre Gloger, Clara Wübbeke und Eva Lusch sei allen an den Recherchen und der Ausstellungskonzeption Beteiligten innerhalb und außerhalb unseres Museums gedankt.
Prof. Dr. Ulrich Schädler vom Schweizer Spielmuseum in La Tour-de-Peilz danken wir für seine tatkräftige wissenschaftliche Beratung und die detailreiche Einleitung zu den Anfängen des Spielwürfels in dieser Publikation. Frank Röber (Nachfahre der Firmenfamilie ROVO) und Werner Donat (ehemaliger ROVO-Lehrling) standen uns bei den Recherchen zur Leipziger Firma Erich Röber Apparatebau zur Seite. Dr. Robert Reiß und Gabriele Wagner vom Landesamt für Archäologie Sachsen in Dresden verdanken wir die Leihgabe aussagekräftiger mittelalterlicher Funde aus der Leipziger Innenstadt. Peter Helm von der unidice GmbH stellte uns ein Exemplar seiner 2022 erscheinenden Innovation zur Verfügung, die den digitalen und den analogen Würfel zu einer Spielkonsole mit Touch-Displays vereint. Mit Udo Schmitz von FORUM-SPIEL, dem Institut für Spielpädagogik im Auftrag von Schmidt-Spiele, sowie dem Team der Leipziger Messe rund um Heike Fischer konnten wir fruchtbringende Kooperation eingehen.
Wir wünschen unseren Besucherinnen und Besuchern allezeit Glück im Spiel (und natürlich auch in der Liebe) und nebenher nützliche Einsichten in 5000 Jahre unterhaltsame Ludologie!
Nachtrag, im März ’22
Dass das Spiel wie alles gute und würdige Lebens nur in Frieden und Freiheit wirklich genossen werden kann, schien vor Tagen selbstverständlich – und ist doch durch die geopolitischen Machtspiele der
russischen Führung in einer Weise bedroht, die wir uns mitten in Europa nicht mehr vorstellen mochten. Doch schon als Cäsar der Legende nach am Rubikon den sprichwörtlichen Würfel fallen ließ, löste er einen
blutigen Bürgerkrieg aus. Auch unsere Ausstellung thematisiert die Indienstnahme von Spielformaten für die propagandistische Mobilmachung. Vor allem aber zeigt sie die unbändige Kraft aller Generationen,
sich weder von autokratischen noch populistischen Falschspieler*innen die Freude an jenem lebendigen Austausch nehmen zu lassen, auf dem eine funktionierende Gesellschaft ebenso wie ein gelingendes
Spiel beruhen. In diesem Sinne muss aus Spiel heute Ernst werden, damit ersteres auf diesem Planeten weiter möglich bleibt. Dem stellen wir uns als Geschichtsmuseum mit all unseren Kräften und Formaten.
Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel
© Stadtgeschichtliches Museum Leipzig,
Einrichtung der Stadt Leipzig,
Direktor Dr. Anselm Hartinger
Herausgeber: Dr. Anselm Hartinger, Tim Rood und Jakob Gloger im Auftrag der Stadt Leipzig
Gestaltung: Gruetzner Triebe
Korrekturen: Ann-Kathrin Reichenbach, Clara Wübbeke, Ulrike Dura
Objektfotografie: Michael Stephan, Sabrina Linnemann, Sebastian Krötzsch, André Gloger
Druck und Herstellung: Merkur Druck, Leipzig
ISBN: 978-3-910034-88-4