World Wide Würfel – Eine Ausstellung zum Spielwürfel

Beitrag von Tim Rood l wissenschaftlicher Volontär und Kurator am Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig

Knobeln – Paschen – Zocken. Eigentlich habe ich damit nicht viel am Hut. Vielleicht kennen es einige: Irgendwie bleiben Spielregeln selten ernsthaft hängen und die Konzentration lässt mitunter zu wünschen übrig – was schon mal zur nachhaltigen Frustration der Mitspieler*innen führen kann. Deshalb war ich erst skeptisch, als zu Beginn meines wissenschaftlichen Volontariats am Stadtgeschichtlichen Museum das Thema Spielwürfel aufpoppte, herangetragen durch Privatsammler Jakob Gloger und seinen Vater André. Ein knappes Jahr später eröffneten wir dann die große Sonderausstellung “Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel” im Haus Böttchergäßchen.

Eröffnung „Die Welt als Würfel“ am 12.4.2022 (Foto: Markus Scholz)

Eine Ausstellung über den Würfel? Ich hatte nur wenig Vorstellung davon, was mich erwartet. Die Hintergründe von Alltagsgegenständen sind häufig spannend, aber der Würfel erschien mir auf den ersten Blick doch als eher simples Objekt, dessen Geschichte in einer kurzen Abhandlung erzählt sein würde. Diese Einschätzung änderte sich jedoch schlagartig, als ich die Sammlung von Jakob Gloger zu Gesicht bekam: Jakobs ehemaliges Kinderzimmer in der Wohnung seiner Eltern im Leipziger Westen (mittlerweile umgezogen in ein Depot) entpuppte sich als ein bis unter die Decke vollgepackter Raum mit Objekten, die sich gegenseitig in ihrer Ausstrahlung übertrafen. Die erste Herausforderung sollte also sein, aus dieser Fülle an Gegenständen eine Objektauswahl zusammenzustellen, mit der sich eine stringente Ausstellung über die Kulturgeschichte eines der ältesten Spielkulturgüter der Menschheit konzipieren lässt. Bei Kaffee und Keksen fanden im Spätsommer 2021 intensive wöchentliche Treffen in der Sammlung Gloger statt, um gemeinsam Objekte zu sichten, um zu diskutieren, was diese für Geschichten erzählen können, um Provenienzen und weitere Objektinformationen zu klären und anhand dieser Aspekte zu entscheiden, was wir aus der Sammlung von weit über 10.000 Objekten ausstellen und was nicht. 

Jakob Gloger, Dr. Anselm Hartinger und Tim Rood (Foto: Markus Scholz)

Bei diesen Zusammenkünften zur Objektauswahl und zur thematischen Strukturierung der geplanten Ausstellung trafen Jakobs Perspektive des leidenschaftlichen privaten Sammlers und mein Blick des wissenschaftlichen Kurators aufeinander. Unterschiedliche Herangehensweisen und verschiedene Denkrichtungen führten zu einer interessanten, aber auch herausfordernden Zusammenarbeit. Denn seltene und wertvolle Objekte, deren Erwerb für einen ambitionierten Sammler meist ein zentrales Ziel darstellt, sind nicht zwangsläufig auch aus kuratorischer Sicht ausstellenswert. Oft sind dies vielmehr ganz typische Gegenstände, die den vermittlerischen Nutzen haben, historische Alltagskultur der Vergangenheit zu entreißen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sowie der Geschichte uns noch heute vertrauter Spiele auf den Grund zu gehen. 

Uns blieb nicht viel Zeit für die Umsetzung der Ausstellung: Nach ersten Vorgesprächen hatten wir ein dreiviertel Jahr bis zur Eröffnung. Eine Hilfe beim Erreichen unseres Ziels waren bereits vorhandene Ideen von Jakob und seinem Vater André, der am Museum im technischen Dienst tätig ist, die technische Leitung der Ausstellung übernahm und ebenfalls zum Kuratoren-Team gehörte. Zu diesen Ideen gehörten ein Entwurf für die grundlegende Ausstellungsstruktur oder das Leipzig-Schild in Las Vegas-Optik.

Die Welt als Würfel. Gespräch zwischen Sammler Jakob Gloger und Kurator Tim Rood

Nachdem wir einen roten Faden definiert, erste Recherchen unternommen und die einzelnen Kapitel und Themenbereiche festgelegt sowie die Objektauswahl weitestgehend abgeschlossen hatten, ging es an weitere Recherchen und das Schreiben der Themen- und Objekttexte. Für die Ausstellungskonzeption mussten Architektur, Gestaltung, Elemente wie das Spielzimmer und der begehbare Würfel oder Anzahl und Position von beispielsweise Vitrinen und Monitoren geklärt werden. Neben dem Transport der Objekte und Restaurierungsarbeiten spielte zudem die Planung der Vermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit ein wichtige Rolle. Für mich eine Koordinierungsaufgabe, die ich in diesem Umfang zum ersten Mal übernahm. Neben der Mitarbeit und Unterstützung durch das unersetzliche Museumsteam und weiteren externen Beteiligten und Gewerken, leisteten GRUETZNER TRIEBE die professionelle kreative gestalterische Arbeit und gaben der Ausstellung ein Gesicht.

Der rote Faden der Zeitreise in unserer Schau beginnt in der Zukunft und Gegenwart: Modernes Würfeldesign trifft hier auf bahnbrechende Innovationen aus den letzten Jahrzehnten. Nach Durchquerung von DDR und BRD wirft die Reise ein Schlaglicht auf die Weltkriege und den Kolonialismus. Brett- und Werbespiele um 1900 folgen einer Reihe bemerkenswerter mechanischer Würfelautomaten. Die unterschiedlichen Materialien und Formen der Würfel im 18. und 19. Jahrhundert werden in den Fokus genommen, wie auch die Verteufelung und Kriminalisierung des Würfelspiels im Mittelalter. Letztlich führt unsere Reise zurück bis zu römischen Würfeln, einem Wurfstäbchen aus dem Alten Ägypten und zu den ältesten bekannten Spielwürfeln der Welt aus dem heutigen Irak und Iran.

Besondere Leihgaben, die in einer Privatsammlung aus guten Gründen nicht zu finden sind, haben wir vom Landesamt für Archäologie in Dresden und dem Ägyptischen Museum – Georg Steindorff – der Universität Leipzig erhalten. Hierzu gehören teils mittelalterliche Würfelfunde aus der Leipziger Innenstadt und Elfenbein-Spielsteine von ca. 3000 v. Chr. aus Abusir (Ägypten), die vermutlich auch für das einflussreiche altägyptische Würfelspiel Senet verwendet wurden.

Insbesondere die alltagsgeschichtliche Dimension vieler Objekte lag mir bei der Ausstellungskonzeption am Herzen: durch die ausgestellten Würfel und Würfelspiele lässt sich in viele unterschiedliche Gegenwarten eintauchen. Das Publikum kann so einiges über noch vertraute Spiele erfahren und ebenso heute gänzliche unbekannte Aspekte des Spielwürfels kennenlernen – und währenddessen sogar an mehreren Stellen der Ausstellung selbst spielen. Reizend ist hierbei sicherlich oft das Hinterfragen der Evolutionen heute in Deutschland bekannter Würfelspiele, wie beispielsweise Mensch ärgere Dich nicht, Kniffel oder Monopoly: Hier stecken nämlich Spiele namens Pachisi/Chaupar, Yahtzee bzw. Generala und The Landlord Game als “Originale” dahinter, die mit einer völlig anderen Herangehensweise oder Komplexität erdacht wurden und teils Jahrhunderte alt sind. 

Einblick in die Ausstellung (Foto: Albrecht Voss)
ROVO Prototyp

Zu den Lieblingsexponaten unseres Kuratoren-Teams gehören ganz unterschiedliche Objekte. André Gloger ist großer Fan von einer Kiste gefüllt mit 10-seitigen Würfeln der Firma Mason & Co von ca. 1910. Besonders ist hieran, dass die verschiedenfarbigen W10 fertig zum Versand verpackt sind und alles vollständig ist. In der vermutlich nicht ausgelieferten Holzkiste für den Handel ist sogar das Verpackungspapier original – ein echtes Sammlerstück. Jakob Gloger hat, wie er so oft betont, zu viele Lieblingsobjekte, um eins oder wenige nennen zu wollen. Ein sehr wichtiger Automat ist jedoch erst kürzlich in seine Sammlung gekommen und stellt eine kleine Sensation dar: Lange verschollen geglaubt, fand der ROVO-Nachfahre Frank Röber 2021 den einzigen Prototyp der ROVO-Würfelautomaten (ca. 1931). Arthur Röber entwickelte diesen gemeinsam mit Sohn Erich Röber und Schwiegersohn Alfred Volkrodt im Keller der Leipziger Familie. Der Prototyp des handlichen mechanischen Würfelautomats hat drei rotierende Walzen, die nach dem Loslassen in zufälligen Positionen stehen bleiben. Das für mich ästhetisch schönste Ausstellungsobjekt ist der Taschenwürfelautomat Auto-Dice der New Yorker Firma Demley aus den 1920er Jahren im Art Déco-Stil. Wichtig ist mir jedoch auch das Brettspiel Aufschwung Ost: Es thematisiert spielerisch den von Treuhand und westdeutschen Investor*innen geprägten Transformationsprozess in der ehemaligen DDR – und das bereits 1994. Ziel der Entwickler*innen war es nach eigener Aussage, die Ereignisse der 1990er Jahre in Ostdeutschland abzubilden und ihre Absurdität für sich sprechen zu lassen. Es gewinnt, wer durch die Treuhandanstalt so viele Immobilien wie möglich kauft und am meisten investiert.

Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel (Video: Albrecht Voss)

Wichtigstes Anliegen neben der Ausstellung selbst war die Erarbeitung der Publikation “Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel” (bereits ausverkauft). Das Begleitbuch als „Ausstellung to go“ fasst die Ausstellungstexte und eine Auswahl wichtiger Exponate zusammen. Zudem eröffnet es durch den detailreichen Artikel des renomierten Spielehistorikers und Direktors des Schweizer Spielemuseums Ulrich Schädler die Möglichkeit, noch tiefer in die Materie des Würfels einzusteigen. Nicht zuletzt publizieren wir hier erstmals auch die These zum ältesten bisher bekannten Würfelautomaten, der 1738 von einem gewissen Gallondi erfunden und gebaut wurde. Dieser sollte, wie die meisten mechanischen Würfelautomaten, unter anderem das Falschspiel verhindern und kann für das in Frankreich noch heute beliebte 4 2 1 verwendet werden. Ob er in größeren Mengen hergestellt wurde, bleibt zunächst unbekannt. Belegt ist er aber durch den Artikel (inklusive Abbildung) in einer französischen Zeitung, die vermutlich 1885 erschien und in der Ausstellung zu sehen ist.

Die Bandbreite des von uns entwickelten Rahmenprogramms reichte vom Selbstspielen bis hin zu wissenschaftlichen Annäherungen an den Würfel: (Aktiv-)Führungen durch die Ausstellung für alle Altersgruppen, ein detailreicher Vortrag von Ulrich Schädler zur “Erfolgsgeschichte mit Hindernissen” und den Anfängen des Spielwürfels, ein spannendes Zeitzeugengespräch zur Firma ROVO mit Frank Röber (ROVO-Nachfahre) und Werner Donat (ehemaliger ROVO-Lehrling), ein Workshop zur Herstellung von Würfeln in modernem Design mit “Würfel” von der WÜRFELSCHMIEDE, eine Mensch ärgere Dich nicht- und eine sehr erfolgreiche Kniffel-Meisterschaft in Kooperation mit dem FORUM-SPIEL und Schmidt-Spiele, ein Mathematik-Angebot für Schulklassen, Outreach-Aktionen u.a. im Stadtteilpark Rabet sowie Ferienangeboten zum Bauen eines eigenen Würfels. 

Trotz aller Neuerungen im digitalen Zeitalter bleibt der analoge Würfel aufgrund seiner Haptik und Ausstrahlung ein unverzichtbares Spielgerät und hat bis heute gesellschaftliche Veränderungen über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende, überstanden. Allerdings war es lange nicht ausgemacht, dass sich der gegenwärtig weit verbreitete sechsseitige Würfel durchsetzen würde: Obwohl er bereits mindestens 4300 Jahre alt ist, waren in vielen Kulturen Stabwürfel die dominanten Zufallsgeneratoren. Ganz zu schweigen von “natürlichen” Würfeln wie Astragalen, Holzstäbchen und Kaurischnecken. Wir stellen vor diesem Hintergrund in der Ausstellung “Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel” schließlich nicht nur Spieleklassiker und Würfel-Innovationen verschiedener Epochen vor, sondern fragen immer auch nach den politischen und sozialen Geschichten, die uns einzelne Objekte erzählen können. Mit diesem Blickwinkel haben wir es geschafft, auch Themen wie NS-Propaganda oder Kolonialismus kontextualisiert ins Auge zu fassen und kritisch zu beleuchten. Unsere Zusammenstellung ist ein Querschnitt und zeigt bewusst nur einen Bruchteil der unerschöpflichen Kulturgeschichte des Würfels. Sie trägt jedoch das Potenzial in sich, die Magie des auf den ersten Blick sehr simpel erscheinenden Würfels zu vermitteln. Das beweisen nicht zuletzt viele positive Rezensionen im Gästebuch und in der Presse. Die Ausstellung sieht die Welt durch die Augen des Würfels – und ich glaube, dass dieser Funke auch auf das Publikum überspringt!

Tim Rood im begehbaren Würfel mit Medienstationen und Würfel-Gadgets

“Die Welt als Würfel. 5000 Jahre Glück im Spiel” im Haus Böttchergäßchen des Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig wurde am 12. April 2022 eröffnet und ist verlängert bis zum 23. Oktober.

Als Erweiterung und Fortführung der großen Ausstellung haben wir in den letzten Wochen eine Mini-Würfelausstellung konzipiert, die vom 30.09. – 2.10. auf der Modell-Hobby-Spiel Messe und vom 13.10. – 23.10. in den Promenaden Hauptbahnhof Leipzig zu sehen sein wird.

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