Geschichten, die erzählt gehören
Eine Ausstellung über die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus
Beitrag von Sebastian Krötzsch, ehemaliger wissenschaftlicher Volontär und Co-Kurator der Ausstellung »HAKENKREUZ UND NOTENSCHLÜSSEL. Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus«
Der 9. November: Die Hinrichtung Robert Blums in Wien 1848, die Novemberrevolution 1918, der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, die Reichspogromnacht 1938, der Fall der Berliner Mauer 1989 – dieser Tag ist ohne jeden Zweifel ein »Schicksalstag« für Deutschland, aber auch für die Stadt Leipzig.
Ein für die Historie der Messestadt enorm wichtiges Ereignis, von dem ich zwar wusste; nicht aber, dass es sich ebenfalls in der Nacht vom 9. zum 10. November 1936 zutrug, ist der Abriss des Mendelssohn-Denkmals. Seit 1892 stand es an der Leipziger Grassistraße vor dem Eingang des (2.) Gewandhauses. Die Bronzestatue war 45 Jahre nach dem Tode Felix Mendelssohn Bartholdys aufgestellt worden, um den brillanten Musiker und seinen Beitrag für »die Musikstadt Leipzig« zu ehren. Den Nationalsozialisten war sie ein Dorn im Auge, schließlich war Mendelssohn jüdischer Herkunft. Ein »öffentliches Ärgernis« sei das Denkmal, so die Kreisleitung der NSDAP im Mai 1936. Rudolf Haake, Stellvertreter des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler und überzeugter Nationalsozialist, nutzte die reisebedingte Abwesenheit seines Dienstherrn dazu, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Denkmal beseitigen zu lassen. Die Erinnerung an das einst gefeierte Musikidol sollte aus dem Stadtbild ausradiert werden. Es war ein Akt, der wie die damnatio memoriae antiker Zeiten anmutet.


Es sind Geschichten wie diese, denen wir mit unserer Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel. Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus« nachspüren wollten. Eröffnet wurde die Sonderschau am 26. Januar 2023. Wir wagen damit erstmals einen umfassenderen Blick auf ein zwar bereits gut erforschtes, aber in der öffentlichen Wahrnehmung viel zu unterbeleuchtetes Kapitel der Leipziger Stadtgeschichte. Wir blicken auf die großen kulturpolitischen Entscheidungen der NS-Zeit, auf die damit einhergehenden Prozesse der Gleichschaltung und des vorauseilenden Gehorsams in den Musikinstitutionen und auf die ideologisch motivierte Transformation der Leipziger Musiklandschaft. Wir thematisieren die Benachteiligung, Diskriminierung und Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen und die schrecklichen menschlichen wie kulturellen Verluste, die daraus resultierten. Wir betrachten den Umgang des nationalsozialistischen Leipzigs mit seinen musikalischen Helden, die politische Instrumentalisierung des Musikerbes und wir schauen, was die NS-Herrschaft mit den Menschen machte, den Leipzigerinnen und Leipziger, die Musik liebten und lebten.

Es war uns wichtig, Gesamtzusammenhänge begreifbar zu machen, den Fokus aber immer wieder auch auf konkrete Einzelschicksale zu legen. Schließlich geht es nicht um abstrakte Politik, sondern um Menschen. Wir wollten ihre Biografien zeigen, ihre Lebenswelt, ihr Verhalten in der Diktatur, ihren Umgang mit Repression, Zwang und Verfolgung. Abseits einer schlichten Täter-Opfer-Dichotomie wollten wir Raum für Ambivalenzen schaffen, indem wir unterschiedlichste Personen mit sehr heterogenen Lebenswegen präsentieren. Neun Biografien haben wir ausgewählt. Die Sängerin, die sich frühzeitig für das Exil entschied und der antisemitisch verfolgte Chorleiter werden ebenso vorgestellt, wie Menschen, die als Mitläufer, als Profiteure oder als überzeugte Nationalsozialisten auftraten.


Eine Biografie möchte ich hervorheben. Mir war es persönlich wichtig, auch die Perspektive junger Menschen zu zeigen, die vielleicht selbst Musik eher hörten, als dass sie (schon) selbst musizierend in Erscheinung traten; denen die Musik aber deswegen nicht weniger am Herzen lag. Zu unserer Auswahl gehört daher auch eine junge Kunststudentin, die gerade erst ihre Liebe für Musik entdeckt hatte. Es handelt sich um Jutta Hipp, die später international als Jazzpianistin begeistern sollte. In der Zeit des Nationalsozialismus hörte sie das erste Mal Jazzmusik, machte erste musikalische Gehversuche und knüpfte Kontakte zum Hot Club Leipzig, einem Freundeskreis Leipziger Jazzfans. Zwar waren Jazz und Swing verfemt. Die Begeisterung für die moderne Musik aus Amerika, die im krassen Gegensatz zu den Kulturvorstellungen der Nazis stand, fand mit deren Machtübernahme aber längst kein Ende. Die Geschichten der »Swingjugend« zu erzählen, war mir persönlich eine Herzensangelegenheit. Die jugendlichen Musikfans sind ein gutes Beispiel dafür, dass es durchaus möglich war, im Privaten unangepasst zu leben und damit – wenn auch nur im Kleinen – widerständig zu handeln. Es ist erstaunlich, welche Talente in dieser kulturfeindlichen Zeit des NS-Regimes heranwachsen konnten und dass diese sich ihre Passion für die Jazzmusik bewahrten, trotz all der Widrigkeiten, der Beschränkungen und der versuchten Gleichschaltung der Jugend.

Solche Geschichten faszinieren mich ganz besonders. Von ihnen gäbe es sicherlich noch viele weitere zu erzählen. In einer Zeit, in der die Nachrichten vermehrt den Tod letzter überlebender Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vermelden, ist es umso wichtiger, jene Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen und festzuhalten, die für uns noch greifbar sind. Mit unserer Ausstellung wollen wir einen Beitrag dazu leisten. Neben teils sehr persönlichen Originalquellen präsentieren wir in der Ausstellung eine Menge von historischen Tonaufnahmen und Zitaten (einige davon eigens eingesprochen) sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Unser geplantes Gespräch mit dem bekannten aus Leipzig stammenden Jazzklarinettisten Rolf Kühn konnte nicht mehr realisiert werden. Erst verhinderte Corona ein Treffen; dann verstarb der Künstler im Sommer letzten Jahres im Alter von 92 Jahren. Wir sind sehr dankbar, dennoch eine Tonaufnahme aus einem bereits existenten Interview präsentieren zu können. Diese Geschichten und Perspektiven sind es wert immer wieder erzählt, immer wieder gehört zu werden.

Apropos Hören: Was wäre eine Ausstellung zur Musikstadt Leipzig ohne Musik? Frühzeitig haben wir beschlossen, dass wir die Musik der Zeit in der Sonderschau hörbar machen wollen. Aus den Erfahrungen anderer Ausstellungsprojekte wussten wir, dass es schwerlich umsetzbar sein würde, permanent Musik im Hintergrund zu spielen oder mit mehreren zeitgleich laufenden sogenannten Soundduschen zu arbeiten. Wir entschieden uns daher für den Einsatz von Einhandhörern, die es uns ermöglichen, eine Vielzahl verschiedener Tonbeispiele parallel anzubieten. Als könne man zur damaligen Zeit durch Leipzig laufen und der Stadt lauschen, erklingt die Musik aus den bekannten Institutionen und der herausragenden Musikerinnen und Musiker der Messestadt über die Hörstationen. Es ist Musik zu hören, die in Zeiten von Verfolgung, Zwangsarbeit und Krieg für kleine Momente des Trostes sorgen konnte, und auch jene Musik, die zwangsweise verstummte.


Grundlage jeder musealen Ausstellung sind die gezeigten Originalobjekte. Bei deren Auswahl konnten wir aus den vielfältigen Sammlungen des Museums schöpfen. Die Sonderschau bot Anlass, noch genauer auf die eigenen Bestände zu schauen. So konnte unter anderem der Nachlass des Komponisten und Chorleiters Barnet Licht durch Till Jonas Umbach erschlossen werden. In Ergänzung zu den »hauseigenen« Exponaten, konnten wir auf eine Vielzahl von Leihgaben zurückgreifen. Diese kamen von Museen und anderen Kulturinstitutionen sowie von Privatpersonen, vor allem von Privatsammlerinnen und -sammlern. Die Auswahl reicht vom Kleid aus dem Besitz der Sängerin Elena Gerhardt (Leihgabe des Musikinstrumentenmuseums) über ein Koffergrammophon (Leihgabe von Claus Fischer) bis hin zum Cembalo des Thomasorganisten Günter Ramin (Leihgabe von Johannes Lang, einem Urenkel Ramins). Die geliehenen Exponate bereichern unsere Ausstellung ungemein, sie sorgen für Vielfalt und ermöglichen es uns, noch viel mehr spannende Geschichte zu erzählen, als es sonst möglich gewesen wäre.
Und so sind wir stolz, eine Ausstellung präsentieren zu dürfen, die sich der Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus auf verschiedenen Wegen annähert. Es ist eine Ausstellung geworden, die Eindrücke der facettenreiche Leipziger Musiklandschaft jener dunklen Zeit vermittelt und dazu einlädt, der Musik und den Geschichten zuzuhören und hoffentlich auch dazu, dem Vergessen entgegenzuwirken, zum Nachdenken und zum Diskurs anzuregen.

»HAKENKREUZ UND NOTENSCHLÜSSEL. Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus« im Haus Böttchergäßchen des Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig ist noch bis zum 20.8.2023 zu sehen und wird durch ein spannendes und vielfältiges Begleitprogramm mit Führungen, Konzerten und thematischen Radtouren und Stadtspaziergängen ergänzt.
Fotos von der Ausstellung von Markus Scholz, © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
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