An Freiheits- und Demokratiegeschichte heute erinnern
Ein Redebeitrag zum 17. Juni 1953
von Dr. Anselm Hartinger
Ich denke, als versammelte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Repräsentanten der Politik und Erinnerungskultur sind wir uns zunächst alle einig, dass der 17. Juni 1953 nicht nur einer der Ankerpunkte des diktaturkritischen historischen Gedenkens gerade auch in Leipzig, sondern eines der zentralen Daten der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte ist. Deshalb ist es ja so richtig und wichtig, dass dieses Ereignis kontinuierlich von vielen erinnerungskulturellen Akteuren bespielt wird, eben weil es sowohl eine stadtgeschichtliche wie eine bürgerrechtliche und deutsch-deutsche Dimension hat. Und darum ist es zugleich auch so gut, dass wir heute unsere Ressourcen und Adressatenkreise bündeln und diesen Anlass gemeinsam zwischen Bürgerkomitee, Stadt und vielen anderen Akteuren der Zivilgesellschaft und Politik begehen.
Für diese Bedeutung sprechen allein schon die Fakten des Ereignisses:
- In über 700 Städten und Gemeinden gingen mehr als eine Million Bürgerinnen und Bürger auf die Straße.
- Streiks, Massendemonstrationen und blutige Auseinandersetzungen prägten diesen Sommertag überall in der DDR.
- Allein in Leipzig mobilisieren sich 40.000 Bürgerinnen und Bürger, die damit ihre Forderungen in die Öffentlichkeit trugen: nach besseren Lebensverhältnissen, freien Wahlen, einer tatsächlichen Umsetzung der ja seinerzeit selbst von der SED noch als Zielstellung hochgehaltenen Deutschen Einheit sowie dem Ende jenes umfassenden Umerziehungs- und Bevormundungsprojektes, das sowjetische Besatzungsmacht und der noch junge und erkennbar ungefestigte DDR-Staat hinter der Fassade des antifaschistischen Neuanfangs und Wiederaufbaus ins Werk gesetzt hatten.

Gedenktafel »Den Opfern der Gewaltherrschaft«, Karl-Liebknecht-Straße/Petersteinweg (heute Straße des 17. Juni)
Die weithin bekannten Etappen dieses blutig niedergeschlagenen Aufbegehrens seien hier nur kursorisch angerissen. Es begann auch in Leipzig in den Morgenstunden. Belegschaften mehrerer Baustellen und Industriebetriebe marschierten ins Stadtzentrum. Ihre Präsenz hat Sogwirkung: nur wenige Stunden später sind es bereits mehrere Zehntausend Menschen, die sich in der Innenstadt versammeln.
Obwohl bestimmte Orte der Repression und politischen Mobilisierung angegriffen wurden und namentlich der Propaganda-Pavillon der Nationalen Front im Salzgäßchen beim Markt bald auch in Flammen stand, blieb es zunächst weitgehend friedlich. Das ändert sich, als der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand verhängt, Panzer rollen und Schusswaffen zum Einsatz kommen. Die Bilanz des Tages ist eine bittere: Neun Tote und mindestens 95 Verletzte waren im Bezirk Leipzig zu beklagen. Die Hoffnung auf Dialog und Veränderung wird brutal niedergeknüppelt; nicht wenige stimmen in den Folgejahren nicht mehr an der gleichgeschalteten Wahlurne, sondern mit den Füßen ab – das Scheitern des 17. Juni ist insofern das Präludium zum 13. August 1961, zum Versuch einer am Nicht-Verstehen-Wollen ihrer eigenen Unbeliebtheit irre gewordenen Führung, ein ganzes Volk in einen dauernden Stubenarrest zu zwingen. Schon allein diese bis 1989 andauernde stille Massenbewegung sollte geeignet sein, die von den SED-Oberen in die Welt gesetzte Diffamierung des 17. Juni als eines allein von »faschistischen Handlangern« und »westlichen Agenten« ins Werk gesetzten Umsturzes gründlich zu widerlegen – es war ein veritabler Volksaufstand, der vor allem auch deshalb für das System so gefährlich war, weil er dessen ureigener Legitimation eines »Arbeiter- und Bauernstaates« sichtbar die Grundlage entzog.
Soweit, so unumstritten. Und dennoch besteht meiner Wahrnehmung nach Grund zur Sorge, was die längerfristige Wahrnehmung und damit Relevanz dieses Erinnerungstages betrifft. Denn es scheint eben doch von Jahr zu Jahr mühsamer zu werden, Menschen von außerhalb unseres erinnerungskulturellen Kosmos für dieses Thema zu sensibilisieren. Und tatsächlich – wenn wir uns heute auf diesem Platz umschauen, dann sieht es mindestens so aus, als würde die Zahl jener, die damit etwas verbinden, tendenziell kleiner. Und wenn wir einmal ehrlich sind – selbst uns professionell Zuständigen fällt es zunehmend schwer, auf die regelmäßigen Jahrestage und verwaltungsseitigen Anfragen zu diesem Anlass mit neuen begeisternden Ideen zu reagieren. Dies ist übrigens keine neue Situation – auch in seiner Zeit als westdeutscher Gedenktag an die Deutsche Einheit vor 1989 geriet der 17. Juni mehr und mehr zu einem wortreich bekräftigten Ritual, das immer weniger vom tatsächlichen Glauben an seine Realisierbarkeit begleitet wurde. Der Freiheitsaufbruch von 1989 hat ja nicht nur die Staats- und Parteiführung der DDR samt ihrer hochgerüsteten Sicherheitsorgane, sondern auch in Westdeutschland so manche auf dem falschen Fuß erwischt. Und dann waren sie plötzlich da, diese Revolutionäre mit Trabi und Fassonschnitt, und forderten sogar noch eine gleichberechtigte Mitgestaltungsperspektive ein. Die für das zunächst sehr konfliktreiche Miteinander im neuen gesamtdeutschen Haus relevanten Folgen kennen wir ja – wenn ich etwa an unsere Ausstellung zur Transformation in den 1990er Jahren denke, die manches davon jetzt mit langer Verspätung eben doch zu Bewusstsein bringt.
Woran nun könnte es liegen, dieses latente »Wegdämmern« des 17. Juni aus dem Akutgedächtnis der Erinnerungskultur? Und was könnten wir tun, um das zu ändern, bevor die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr unter uns sein werden?
Nun, zunächst einmal gibt es einen guten, einen freudigen Grund dafür. Tatsächlich hat die Friedliche Revolution von 1989 gerade in Leipzig eine neue Realität und Erzählung geschaffen, die das Gedenken an 1953 ein Stück weit überwölbt und seine Anliegen eben auch eingelöst hat. Die Deutsche Einheit ist gottlob heute ebenso Realität, wie der SED- und Stasistaat Geschichte ist. Wir wollen und müssen diese Epochen und die Realitäten und Folgen der staatssozialistischen Unterdrückungsmechanismen weiter erforschen und in Erinnerung halten, aber sicher nicht, weil der eine oder andere Stasi-Mann noch verbittert auf seiner Veranda sitzen mag oder weil eine Rückkehr des gleichmacherischen Sowjetkommunismus drohen würde. Die Ereignisse von 1989 haben die Erinnerung an 1953 davon befreit, Platzhalter für all das zu sein, und dass bei allen Problemen der Transformation hier in Ostdeutschland in Punkto Wiederaufbau und demokratische Gesellschaft und Rechtsordnung auch viel gelungen ist, darf man durchaus sagen und bei der Gewichtung historischer Ereignisse mitdenken.
Warum und wie wollen und sollen wir dann aber künftig weiter an 1953 erinnern? Wofür könnten diese schmerzlichen Ereignisse heute und in der vorhersehbaren Zukunft weiter stehen, und wie könnte es gelingen, dahingehend den Übergang von der »Erlebnisgeneration« hin zu einer dauerhaften neuen Erinnerung vorzubereiten?
Grundsätzlich wird es dafür nötig sein, der Devise zu folgen, dass eine wirksame Erinnerung an das Gestern nur gelingen wird, wenn wir im Heute und bei der Alltagserfahrung und den Themen der Menschen ansetzen, die jetzt hier leben.
Dabei müssen wir den Blick womöglich weiten und bestimmte Aspekte des seinerzeitigen Geschehens konsequenter für heute anschlussfähig machen. So klingt es im ersten Moment relativ »altbacken«, wenn man im Zusammenhang mit einer Staatswirtschaft die für die Proteste des 17. Juni mit ausschlaggebende massive Erhöhung der Arbeitsnormen erwähnt. Im Kontext eines generellen Nachdenkens über gerechte Arbeit und faire Entlohnung könnte dies jedoch ganz anders verfangen. Auch wäre vielleicht etwas weniger über den Kampf gegen eine längst verabschiedete totalitär entgleiste Befreiungsideologie des 20. Jahrhunderts zu sprechen, als über den tagtäglich spürbaren Autoritarismus und Demokratieabbau überall auf der Welt.

Volksaufstand 17. Juni 1953, Pavillon der Nationalen Front, rechts ein sowjetischer Panzer. Im Hintergrund das Alte Rathaus und die Alte Börse. Fotografie, Lothar Hammer, 17.6.1953, Inv.-Nr.: F/508/2007
Denn die 1953 so präsenten Panzer – die sich jenseits ihrer rein militärischen Verwendung als Unterdrückungsinstrumente gegen soziale Bewegungen und revolutionäre Menschenmengen leider bestens bewährt haben – rollen ja auch heute in vielen Teilen der Welt. Namentlich in der von Russland mit einem barbarischen Angriffskrieg überzogenen Ukraine, aber auch im Sudan, in Myanmar und vielen anderen Teilen der Welt. Oder sie werden von den Mächtigen dafür in Reserve gehalten und sollen dafür ein entsprechendes Level an Einschüchterung hochhalten. Deshalb horchten ja 1989 in Leipzig manche älteren Protestteilnehmer, ob es nach den russischen Panzerketten von 1953 klingt, und deshalb transportieren die ja wieder in Mode kommenden Paraden echter oder angestrebter Autokraten eine mindestens auch nach innen gerichtete Botschaft. Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass im Zuge der jetzt laufenden und aus Gründen der äußeren Bedrohung zweifellos unvermeidlichen Neubewertung des Militärischen auch in unserer Gesellschaft deren Zivilität nach innen nicht unter die Räder kommt – übrigens auch, weil nur so das der Demokratie eigene Konzept von »Staatsbürgern in Uniform« seine freiheitliche Überlegenheit gegenüber den Schergen und Söldnern der Diktaturen ausspielen kann.
Apropos Panzer: Wir reden auch im Zusammenhang mit 1953 oft über die Panzer und die gewaltsame Niederschlagung des Arbeiteraufstandes, was im Kontext des Gedenkens an die Opfer auch nötig und richtig ist. Wir könnten aber auch – und zwar ebenso wie beim Erinnern an die Friedliche Revolution von 1989 – stärker das Moment der beglückenden Selbstermächtigung von Menschen in den Blick nehmen, die sich in solchen Momenten in einer kühnen Rückforderung des Textes der DDR-Hymne tatsächlich und jenseits aller Bevormundung »ihrer Zukunft zugewandt hatten«. Es gibt ja Berichte auch vom 17. Juni, dass da zumindest anfangs jene begeisterte Stimmung auf den Straßen herrschte, wie sie dem zauberhaften Beginn von befreienden Veränderungen oft innewohnt. Dieser für Stunden greifbare Möglichkeitsraum eines »offenen Landes mit freien Menschen« ist übrigens auch das, was mir in meiner persönlichen Erinnerung an 1989 am meisten präsent ist. Sprechen wir deshalb gerade in Zeiten einer verbreiteten Transformationsmüdigkeit wieder mehr vom Zauber der friedlichen und gemeinschaftlichen Veränderung, und lassen wir solche Gedenktage und all unsere zugehörigen Ausstellungen und Veranstaltungsprojekte bei allem gebotenen Ernst wieder so frohgemut werden, wie es zu einem solchen vom Mut und der Kreativität von Menschen geprägten Anlass eben auch passt.
Und holen wir bei aller an den Ort und Kontext von 1953 gebundenen historischen Konkretheit doch stärker auch die Erfahrung der osteuropäischen Freiheitsbewegungen und auch jene migrantischen Perspektiven mit hinein, die es sonst zum beiderseitigen Schaden doch so schwer haben, einen Platz in unserer Geschichts- und Erinnerungskultur zu finden. Nicht wenige der Menschen, die in den letzten Jahren zu uns kamen, sind ja vor den Panzern und Verfolgungen autoritärer Regime geflohen. Warum beziehen wir dann aber bei einem solchen Anlass wie heute nicht stärker die Erfahrungen etwa des Majdan in Kiew mit ein, und wo ist eigentlich der Unterschied zwischen dem 17. Juni 1953, dem Massaker im syrischen Hama 1982 oder die Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park in Istanbul? Ich denke, hier haben wir reiche und noch viel zu wenig genutzte Anknüpfungspunkte, um die Erinnerung auch an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte so zu pluralisieren, wie es unserer Gesellschaft entspricht.

Demonstrationszug Herbst 89, Foto: Martin Naumann, Inv.-Nr. F 9950
Und schließlich: Sprechen wir über Demokratie und Freiheit nicht nur heute, sondern generell als kostbare Güter, um die man sich täglich bemühen muss und für die es heute weltweit wieder verstärkt zu kämpfen gilt: Die Möglichkeit, eine Meinung zu haben und sie öffentlich zu sagen – auch wenn es »den Oberen« und der Mehrheit nicht gefallen mag. Die Freiheit, zu leben, zu lieben, zu reisen und sich zu organisieren, wie und auf welche Weise man möchte. Das Recht, in guter Verfassung zu leben, und im Sinne von Bertolt Brechts Kinderhymne mit anderen Völkern auf Augenhöhe und in Frieden.
Der 17. Juni ist der Dioskur des 9. Oktober, und er bildet vielleicht mit dem 9. November ein Dreisäulen-Modell der Gefährdungen und Chancen der Demokratie in Deutschland und der ganzen Welt. Er ist jener Tag, an dem wir daran erinnern, welchen Preis der Einsatz für Freiheit und Demokratie haben kann. Aber auch daran, dass sich die Sehnsucht danach nicht auf Dauer zerstören und totschweigen lässt. Weil es immer Menschen gibt und geben wird, die das Kreuz durchdrücken und »Nein« zur Unterdrückung und »Ja« zu einem gemeinschaftlichen neuen Aufbruch sagen. Wir werden sie brauchen, heute mehr denn je. Damit unsere in der Geschichte einzigartige Freiheit nicht von außen aggressiv überrollt und von innen resignativ aufgegeben wird. Dies sind wir gerade auch den unvergleichlich mutigen Menschen des 17. Juni schuldig.