Auf Tunnelsuche mit Wünschelruten
Ein Konvolut von Berichten und Schriftverkehr der anderen Art
Von Marko Kuhn, Bibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums
Altbestände werden in der Bibliothek nach und nach retrospektiv erschlossen. Sobald eine ältere Schrift in irgendeiner Form genutzt wird, wird sie in der Regel auch in die Sammlungsdatenbank aufgenommen. Bei Recherchen für eine Anfrage stießen wir auf einen Umschlag mit sehr skurrilem Inhalt.
Bei Stadtführungen ist immer wieder auch das »unterirdische« Leipzig Thema, d. h. die Kanalisation und Kellergewölbe. Bei einer externen Anfrage irgendwelche Geheimgänge betreffend haben wir in unserer Sammlung zur Leipziger Schulgeschichte einen unscheinbaren Umschlag mit sehr interessantem Inhalt entdeckt. In die Datenbank 2022 aufgenommen, kamen wir erst 2024 dazu, uns inhaltlich genauer mit dem Inhalt zu beschäftigen. 16 maschinenschriftliche Dokumente, bei denen auch der damalige Museumskustos Walter Lange beteiligt war, geben Auskunft über eine bizarre Suche nach unterirdischen Geheimgängen in Leipzig. Lange hatte penibel Berichte über die damaligen Geschehnisse geführt.

Am 22. Januar 1936 trafen sich Walter Lange, Vertreter der städtischen Feuerwehr und der Polizei mit dem Propagandaleiter des Reichsluftschutzbundes namens Holzweißig in den Kellerräumen der Alten Nikolaischule. Dort suchte man nach einem Eingang zu einem Geheimgang in grober Richtung Augustusplatz, den der junge Holzweißig etwa 30 Jahre zuvor dort entdeckt haben will. Man wurde nicht so richtig fündig, aber man erinnerte sich an Erich Naumann, seines Zeichens Inhaber der Hauptbahnhofswirtschaft und »ausgezeichneter Rutengänger«.
Zwei Tage später wurden mit Naumann zusammen weitere Keller unter dem Nikolaikirchhof, unter der Ritterstraße sowie unter dem Augustus- und Johannisplatz besichtigt. Überall wurde Naumann mit seiner Wünschelrute fündig, er entdeckte vermeintliche Hohlräume unter den Kellergemäuern. Beim oberirdischen Abgehen und Ausloten der Strecken stieß man auch noch auf einen angeblichen Geheimgang von der Moritzbastei (damals Bürgerschule) in Richtung Königstraße (heute Goldschmidtstraße). Lange zeichnete den Verlauf der Gänge mit Bleistift in einen Stadtplan im Museum ein.

Im Januar 1936 machten sich zwei beauftragte Maurer ans Werk, um im Keller der Nikolaischule den Eingang zum Geheimgang freizulegen. In zwei bis drei Meter Tiefe entdeckten die beiden gewaltige, in Reihe angeordnete Findlinge, die als Seitenwände des Ganges gedeutet wurden. Mittels Bohrungen wollte man nun die Lage des Tunnels feststellen. Dann passierte aber anscheinend lange Zeit nichts mehr, zumal in einem Bericht Lange auch auf die hohen Kosten des ganzen Vorhabens hinwies, die kein Amt anscheinend so richtig übernehmen wollte bzw. konnte.
Dann kam erst im März 1937 wieder Bewegung in das Ganze. In den sächsischen Städten sollten mehr Luftschutzräume eingerichtet werden, und so wandte man sich an den Reichsstatthalter des Innenministeriums in Dresden. Mit dem Argument, dass mit den angeblichen Geheimgängen ja schon vernetzte Luftschutzräume da wären und diese nur noch freigelegt werden müssten, bat man um Finanzierung der Freilegung. Diese wurde abgelehnt. Im Mai 1937 hatte die Stadt mit 1.000 Reichsmark nun doch Geld bereitgestellt. Ein Bauunternehmer und Wünschelrutengänger zweifelte die Aussagen seines Vorgängers an und schwang erneut die Rute. Auch er fand vermeintliche Hohlräume, die er freilegen wollte. Nachdem seine Arbeiter im Juni 1937 einen verfüllten Hohlraum ausgegraben hatten, bricht die Berichterstattung Walter Langes ab. Vermutlich hatte die Stadt ab der Zeit andere Sorgen …
Zu dieser Geschichte haben wir im Museum nur dieses kleine Konvolut, es gibt weder den ominösen händisch ergänzten Stadtplan noch Fotografien von den Grabungsarbeiten. Walter Lange war ein viel beschäftigter Mann, aber auch sehr akribisch. Wären die Arbeiten weitergegangen, hätten wir auch sicherlich mehr Material. Was bleibt, sind die Erkenntnisse, dass auch immer wieder in den Altbeständen kleine Schätze zu Tage treten können und dass Leipzig wieder um eine geheimnisvolle Geschichte reicher ist.