Der 9. Oktober in Leipzig

Ein Grund, auf die Straße zu gehen, sich unters Volk zu mischen und ins Gespräch zu kommen

Der 9. Oktober 1989 ist in die Geschichte eingegangen als der Tag, an dem sich in Leipzig etwa 70 000 Menschen zur Montagsdemonstration versammelten und damit einen ausschlaggebenden Impuls für die Friedliche Revolution in der DDR setzten.

Das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig setzt dieser Zeit ein besonderes Denkmal: in der Ständigen Ausstellung „Moderne Zeiten“ im Alten Rathaus können die Besucherinnen und Besucher an Hand von Videoinstallationen die Geschehnisse wieder erleben oder sich hinein fühlen, wenn sie selbst nicht dabei gewesen sind. Verschiedene Objekte dokumentieren den Weg von einer kleinen Oppositionsbewegung im Zirkel der Nikolaikirche hin zu den Massenkundgebungen im Herbst ’89. In der Ausstellung wird Geschichte lebendig und lassen sich Bezüge zur Gegenwart herstellen.

Der Wunsch nach Reformen im verstaubten System der DDR wurde mit den legendären Worten „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ laut. Damit traten die Menschen in einen Dialog mit jenen Machthabern, die zu lange über die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger hinweggesehen hatten. Die Mutigen, die Freiheit und Demokratie forderten, wurden an jenem Tag, allen Befürchtungen zum Trotz, nicht gewaltsam niedergeknüppelt wie während des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 oder noch am 7. Oktober 1989.

Der friedliche Verlauf dieser Massendemonstration, die Bereitschaft der Menschen, gewaltfrei und selbstbewusst für ihre Rechte einzutreten, macht diesen Tag zu etwas ganz Besonderem. Seit 2014 hat sich in Leipzig ein Lichtfest etabliert, bei dem sich Tausende in der Innenstadt treffen und sich an den Tag erinnern, an dem sich nicht nur Leipzigs Stadttore wieder der Welt öffnen wollten.

Die Ereignisse des 9. Oktober werden als Initialzündung für den Fall der Berliner Mauer und damit für das Ende der DDR begriffen. Ihre Bedeutung reicht weit darüber hinaus: das Ende der Spaltung Deutschlands in Ost und West, in zwei gegensätzliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Systeme bereitete, zumindest symbolisch, auch den Weg zum Ende einer Spaltung Europas und der Welt in zwei Blöcke. Dass mit solch tiefgreifenden Veränderungen zumeist auch komplexe persönliche und globale Konflikte neu auf die Tagesordnung treten, ist eine unvermeidbare Konsequenz, die in Leipzig jedoch in Kauf genommen wurde, um den Weg für eine neue Form der Lebensgestaltung zu bahnen.

Dass Menschen, die ein Risiko auf sich nehmen, um zu demonstrieren und für Freiheit und Selbstbestimmung einzutreten, immer auch das Risiko auf sich nehmen, zu scheitern, zeigt die derzeitige globale Lage. Dem Arabischen Frühling 2011 ist im Vergleich zur Friedlichen Revolution in der DDR vor 27 Jahren kein so milder Ausgang beschieden. Der Ruf nach einer politischen und sozialen Wende führte nicht in allen Ländern zu einer „sanften Revolution“ wie sie in Marokko genannt wird. Der Sturz der Staatsoberhäupter Tunesiens, Libyens, Ägyptens und Jemens haben die Ländern in eine tiefe Krise gestürzt, die sich teilweise bis zum blutigen Bürgerkrieg steigerte. Die jemenitische Bevölkerung gelingt wegen der Seeblockade und der zerstörten Flughäfen nicht aus dem von Kriegshandlungen derzeit schwer erschütterten Land hinaus. Die Bevölkerung ist auch hier gespalten wie in Syrien, wo die Regierung weiterhin an der Macht geblieben ist und unterschiedliche Interessengruppen in militärischen Dauerstößen das Leben der Zivilbevölkerung so drastisch gefährden, dass zahllose Menschen zur Flucht gezwungen sind.

Die Konsequenzen dieser Ereignisse sind jetzt deutlich in Europa spürbar. Der Herbst 2015 wurde mit Angela Merkels Einwanderungspolitik für Deutschland zu einem neuen historischen Wendepunkt. Wieder steht das Land vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, wieder geht es darum, Grenzen zu überwinden, Mauern niederzureißen und für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Die Revolution ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, mit der Flutwelle angestauter Emotionen sollte aber auch heute besonnen umgegangen werden. Leipzig war immer schon eine Stadt der Begegnung. Sie ist eine Stadt der Vielfalt und der unterschiedlichen Lebensweisen und ein Ort, an dem sich immer wieder auch Menschen versammeln, um für den Frieden und für den Wandel einzutreten. Weil die Welt im 21. Jahrhundert von selbst zusammenwächst, wo Globalisierung und Medialisierung sich nicht mehr unterdrücken lassen und vor allem, weil das Leben eben immer im Fluss und in der Bewegung begriffen werden muss.

Der 9. Oktober 2016 fällt auf einen Sonntag. Vielleicht lässt er sich zum Anlass nehmen, sich zusammenzufinden und gemeinsam in die Innenstadt zu gehen, das Stadtgeschichtliche Museum zu besuchen und im Alten Rathaus mit ein bisschen Zeit nachzuempfinden, was die Revolution von ’89 ausgemacht hat, vielleicht lässt sich etwas von ihrem Geist wiederaufnehmen und ins Jetzt tragen. Mich haben die Bilder und Geräusche dieser Ausstellung sehr berührt und ich kann nur empfehlen, sich inspirieren zu lassen, einzutauchen und Kraft zu schöpfen, aus der positiven Energie jener Stunden am 9. Oktober 1989.