Zwischen Lindenstadt und Hypezig
Unsere neue Ausstellung »KENNZEICHEN L. Eine Stadt stellt sich aus « als Beitrag zur Zeit- und Stadtgeschichte
Es ist soweit – nach anderthalbjähriger Vorbereitung öffnet unsere Sonderausstellung »Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus« ihre Türen! Corona-Schließungen, Quarantänen und Lieferschwierigkeiten zum Trotz haben wir es geschafft, dieses herausfordernde Projekt zu stemmen und damit unsere Sicht auf Leipzig zur Diskussion zu stellen – inmitten der Krise und als Beitrag zum Themenjahr »Leipzig – Stadt der Sozialen Bewegungen« 2021.
Worum geht es in dieser Ausstellung, was dürfen Sie als Besucherinnen und Besucher erwarten? Zunächst eine in dieser Form erstmals versuchte kühne Zusammenschau all jener Themen und Debatten, die Leipzig heute umtreiben und die wir jeweils in einen historischen Kontext stellen, der zugleich Ausblicke in die Zukunft ermöglicht. Bezahlbares schönes Wohnen als gewachsener Anspruch und aktuelle Sorge wachsender Bevölkerungsschichten, die Spaltung in Arrivierte und Abgehängte und damit die Zugehörigkeit zur Leipziger Erfolgserzählung der letzten Jahre sowie die Frage, ob es zwischen Zentrum und Ortsteilen sowie angesichts divergierender politischer und persönlicher Präferenzen überhaupt noch so etwas wie „ein“ Leipzig gibt. Dazu die ewig junge Spannung zwischen visionärem Anspruch und belächeltem Größenwahn, die Leipzig seit mindestens einem Jahrhundert prägt und die Stadt der stets wechselnden Kampagnen zugleich so ambitioniert wie anstrengend macht.
Dazu kommen jene Eigenheiten der kollektiven Mentalität, die über Zeiten und Systeme hinweg den Alltag und besonderen Spirit Leipzigs geprägt haben.
Da ist das gern im Mund geführte Wort von der „weltstädtischen Metropole“, hinter der sich doch eher eine Gastgeberstadt der kurzen Wege verbirgt. Die sich zugleich meist als eine Art „heimlicher Hauptstadt“ verstand, die nie Residenz war, dafür aber ein Refugium kultureller Freiräume blieb und dabei so viele zentralörtliche Funktionen wie kaum eine andere vereinigt – von der Landesuniversität und dem Landeskonservatorium über die Bundhändlerbörse und Deutsche Bücherei bis hin zur DHFK, Strombörse und dem Ausbildungskommando der Bundeswehr.
Die „bürgerschaftliche Prägung der Leipziger Kultur“ und ihrer Institutionen von Thomanerchor bis Gewandhaus – in vielen Bereichen auf Weltniveau, dabei aber durchgängig aus der Mitte der Bürgerschaft gestiftet und so durch alle Krisen hindurch erhalten. Ein darauf fußendes angewandtes Kunstverständnis, das so unterschiedliche Bereiche wie den hier erfundenen Kanon der klassischen Musik, die Leipziger Schulen der gegenständlichen Malerei und Fotografie sowie die Schriftstellerausbildung am Deutschen Literaturinstitut verbindet – damit allerdings auch nonkonformistische Sub- und Gegenkulturen provoziert. Nicht zuletzt ein Anspruch auf Teilhabe und Mitgestaltung, der sich aus den Freiheitsaufbrüchen von 1989 speist und entsprechende Forderungen der Freien Szene, Straßenmusik und Clubkultur begründet.
Da ist die „Stadt der Engagierten und Aufsässigen“, deren Tradition einer friedlichen Veränderung in der Geschichte keineswegs unumstritten blieb, die sich jedoch als Gründungsort der deutschen Arbeiter- und Frauenbewegung profilierte und deren Bildungsorientierung sich zum Emanzipationsversprechen auch für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger entwickelte. Eine Stadt zudem des vereinsmäßigen Mittuns, das den gemeinschaftlichen Chorgesang ebenso wie die Wurzeln der kommunalen Daseinsvorsorge und genossenschaftlichen Organisation einschließt.
Leipzig als „Stadt in dauernder Neugründung“ zeigen wir von den Messeprivilegien um 1500 und dem Eisenbahnbau 1839 bis zu den Umbrüchen von Krieg, NS-Arisierung, politischer Wende und Wiederbereinigung. Visionäre Gründerfiguren wie Karl Heine, Bertha Wehnert-Beckmann und der heute 90-jährige Horst Bendix kommen ebenso vor wie ambivalente Leipziger Marken vom handlichen Reclam-Taschenbuch und der todbringenden HASAG-Panzerfaust bis zur Elektromobilität heute; dem trotzigen Festhalten am Messestandort steht ein robuster Umgang mit historischer Bau- und Denkmalssubstanz gegenüber. Dass Leipzigs Lebensqualität stark vom stadtnahen Grün des Auwalds und der Identität einer postindustriellen Wasserstadt geprägt ist und seine Einwohner*innen zwischen Wildpark, Zoo und Rennbahn allenthalben die Begegnung mit der Tierwelt suchen, wird in einem eigenen Kapitel, das alte und neue Bedrohungen dieser Naturidylle nicht verschweigt, liebevoll nachgezeichnet.
Was zeigen wir, und wer kommt zu Wort? Natürlich Schätze und Kostbarkeiten aus etlichen Jahrhunderten, vor allem aber Alltagsbegleiter und Erinnerungsstücke, die Menschen in dieser Stadt etwas bedeuten. Das Spektrum der Objekte geht dabei souverän über Gattungen und Zeiten hinweg – Amtskette trifft Kaffeetasse, Legomodell, Konservendose und Fahrradluftpumpe sind ebenso vertreten wie der Industrie-Kerzenständer der Kneipe ConnStanze, das berühmte Bach-Porträt von Elias Gottlob Haußmann und die zerzauste Jacke einer Friedensaktivistin. Eine Vase der Ersten Grassimesse von 1926 liegt in Sichtweite des letzten Engelsdorfer Ortschilds vor der Eingemeindung; ein Original-Kiosk der Zoo-Lotterie, der Leo-Lips-Löwe der Stadtreinigung sowie ein glanzpoliertes Piccolo Trumpf-Gefährt der 50er Jahre wecken nostalgische Erinnerungen. Wahlplakate, Sporttrikots und ein geworfener Pflasterstein stehen hingegen für das konfliktreiche Leipzig von heute, das Akteure und Aktivisten der heutigen Stadtgesellschaft in Kurzinterviews kommentieren.
Vieles stammt aus den reichhaltigen Sammlungen unseres Museums; besondere Leihgaben erhielten wir vom Zoo, der Universitätsbibliothek, dem Bach-Archiv, der Louise Otto-Peters-Gesellschaft, der LVB, dem Naturkundemuseum und vielen anderen Partnern. Zudem haben uns Bürgerinnen und Bürger ihre Reliquien und berufstypischen Attribute anvertraut – vom Dirigierstab, Tagebuch und Kameraobjektiv bis hin zum Rucksackbegleiter auf der Flucht über das Mittelmeer.
Eine besondere Bereicherung unseres Angebots stellt das Projekt „Beyond the L“ dar, das Studierende, Meisterschüler*innen und Alumnae der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig unter Leitung von Julia Kurz und Angelika Waniek sowie gemeinsam mit uns und entlang der Themen der Ausstellung als wechselnde Intervention erarbeiten.
In einer Ausstellung, die so turbulent, assoziationsreich und meinungsstark wie die Stadt selbst ist, kann es nicht nur um kuratorische Botschaften gehen. Vielmehr spielen dialogische Vermittlungsangebote eine weit über das Begleitprogramm hinausreichende Rolle. An etlichen Stationen fragen wir die Besucher*innen nach ihrer Meinung, fordern zur Positionierung auf oder stellen ihre Leipzig-Kenntnis auf die Probe. Manches davon erarbeiten wir erst während der Laufzeit – etwa in Zusammenarbeit mit einem Stadtklang-Projekt des Mühlstrasse 14 e.V. oder auf Exkursionen durch einzelne Stadtteile. Wer dann nach 400 Quadratmetern Rundgang eingeladen ist, zu formulieren, was sie oder ihn in Leipzig hält, wird neben der persönlichen Prägung gewiss auch manches aus dem vielstimmigen Chor der Ausstellungsthesen in Erwägung ziehen. Genau so wünschen wir uns die engagierte und tolerante Verständigung einer ganzen Stadtgesellschaft, für die Museen und Ausstellungen dieser Art „Labore der Begegnung“ darstellen.
Hinter dem Bemühen unseres gesamten Museumsteams steht letztlich das Vertrauen, dass es möglich ist, einen hohen inhaltlichen und sprachlichen Anspruch sowie eine beträchtliche konzeptionelle Stringenz mit dem liebevollen Blick für das Detail sowie einer spielerischen Gestaltung und Szenographie zu verbinden. Dass wir dabei den Hauptbahnhof als Ikone der Mobilität dem Uni-Hörsaal und Messetreiben als klassische Leipziger Standortfaktoren zur Seite stellen und dazwischen aufgestapelte Koffer Träger jener persönlichen Ding-Geschichten sind, die Leipzig als Stadt der Ankünfte vor Augen stellen, lässt die Ausstellung zur imaginierten Reise durch das kollektive Selbst vieler Jahrhundert werden. Dass wir am Ende einen letzten Koffer zur Begegnung mit dem eigenen Selbst im Spiegel bewährter Leipziger Kraftquellen vom Bürgersinn bis zur Selbstironie einsetzen, sorgt für den nötigen Proviant für die nächsten Etappen.
Steigen Sie einfach mit ein – das Tempo zwischen Sänfte, Fahrrad und Straßenbahn bestimmen Sie!
(c) SGM, Fotos Markus Scholz