Vom „Israelitischen Kochbuch“ zum „Jüngsten Tag“ – Lebenswerke jüdischer Verleger in Leipzig

Beitrag von Tim Rood, wissenschaftlicher Volontär

„Uns eint die Liebe zum Buch.“ Jüdische Verleger in Leipzig. 1815 – 1938

Dr. Andrea Lorz und Dr. Johanna Sänger widmeten sich im Sommer 2021 mit der Ausstellung „Uns eint die Liebe zum Buch. Jüdische Verleger in Leipzig 1815-1938“ im Neubau des Stadtgeschichtlichen Museums teilweise fast in Vergessenheit geratenen Geschichten von hiesigen jüdisch geleiteten Verlagen – Ich durfte sie bei der Konzeption unterstützen. Unser Buch- und Ausstellungsprojekt war ein Beitrag zum #2021jlid – Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland , welches auf gegenwärtiges jüdisches Leben in Deutschland aufmerksam macht und zugleich an die vielfältige jüdische Kultur der vergangenen Jahrhunderte erinnert. Trotz Überlieferungsverlusten zu kleineren Unternehmen, konnte das Projekt doch einige Geschichten von Leipziger Verlagen und ihren Persönlichkeiten wieder näher an die Oberfläche holen.

Leipzig etablierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als wichtige Messe- und Buchstadt. Durch spezialisierte Druckereien und Verlagshäuser waren hier gute und preiswerte Voraussetzungen für den Buchhandel gegeben. Fast vergessen ist jedoch der Anteil jüdischer Buchprojekte und Verleger an dieser Erfolgsgeschichte. Nachdem Landesregierung und Stadt Ansiedlungsrestriktionen lockerten und schließlich 1837 die Bildung einer jüdischen Religionsgemeinde gestatteten, wurde auch die Publikation von bedeutenden Werken des deutschen liberalen Judentums möglich. Jüdische Persönlichkeiten und Unternehmen ganz unterschiedlicher Ausrichtungen waren in Leipzig bis zur Progromnacht 1938 Teil der lokalen und überregionalen Buchbranche.

Jüdische Verleger und ihre Verlage

Anfang des vergangenen Jahrhunderts umfasste die große Bandbreite der von Verlegern mit jüdischem Glauben oder jüdischer Herkunft in Leipzig herausgegebenen Werke religiöse Schriften, bedeutende Notendrucke, wissenschaftliche Publikationen und sogar einen Stadtplan. Letzterer war von Sindel Siegfried Schussheim nicht nur für die Bewohner*innen seiner sozialen Altenheime in Wahren gedacht, sondern ebenso für alle Interessierten und ermöglichte durch die detaillierten Wegbeschreibungen ein einfaches Zurechtfinden im Gewimmel der Großstadt. Eine aus antirassistischer Perspektive absurde Anekdote über den Lesezirkel-Gründer: Während er bereits 20 Jahre zuvor wegen seines Vornamens Siegfried mit antisemitischen Anfeindungen zu kämpfen hatte, wurde Schussheim die Verwendung des vermeintlich Deutschen vorbehaltenen Namens im Laufe der 1930er Jahre von Polizei und Gestapo untersagt.

Die hebräische Buchhandlung Moses Wolf Kaufmann gehörte zu den ältesten jüdischen Verlagen in Deutschland. Seit 1862 zunächst in Hamburg, dann auch in Leipzig am Brühl ansässig, erschienen hier beispielsweise Werke zur Synagogenmusik, ein „Israelitisches Kochbuch“ oder das von Raphael Chamizer sehr ansehnlich illustrierte hebräische Kinderbuch Li-yeladenu – verfasst von Dr. Mojssej Woskin-Nahartabi, einem renommierten Leipziger Experten für hebräische Sprache. Als religiöse Buchhandlung bekannt, deren Sortiment auch Gebrauchsgegenstände für jüdische Feste umfasste, war M. W. Kaufmann eine Institution für die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig.

Der wohl bedeutendste Leipziger Musikverlag Edition Peters publiziert noch heute Notenblätter von Bach bis Grieg. Bereits 1800 gegründet, übernahm Henri Hinrichsen den Verlag von seinem Onkel Max Abraham und baute dessen Weltbedeutung aus. Bis zur „Arisierung“ des Verlages und seiner Ermordung durch die Nazis, wirkte Hinrichsen als Mäzen in der Leipziger Stadtgesellschaft und stiftete unter anderem die heutige Henriette-Goldschmidt-Schule als erste Frauenhochschule im Deutschen Reich. Der ebenfalls international agierende Musikverlag Anton J. Benjamin hingegen beschäftigte sich mit allen Genres – und vor allem mit populärer Musik: Volksmusik, Schlager oder Märsche in Noten- und in Schelllackform waren seit 1920 auch in Leipzig die Verkaufsschlager des ursprünglich in Hamburg gegründeten Unternehmens. Einige der damals veröffentlichen Musikstücke können heute ganz einfach im Internet angehört werden ( https://www.youtube.com/watch?v=-ZaOf41auUc ). Der Titel ist unter anderem getextet von Nanny Intrator (komponiert von Billy Golwyn und Joseph Freudenthal). Intrator war Verwandte und Mitarbeiterin der letzten Unternehmerfamilie Schauer, sowie eine der sehr wenigen in den Recherchen zum Thema aufzufindenden Frauen – Geschlechtergerechtigkeit spielte im damaligen Verlagswesen noch keine Rolle. Nachdem die Familie Schauer 1939 Deutschland verlassen mussten, konnte sie die Firma Anton J. Benjamin in Großbritannien neu aufbauen.

Tim Rood und Dr. Johanna Sänger in der Ausstellung

Der expressionistische Kurt Wolff Verlag siedelte von 1912 bis 1919 seinen ersten Firmensitz im Graphischen Viertel an. Nicht nur Kafka, Trakl oder Werfel fanden ihre literarische Heimat in der schlicht gestalteten Broschürenreihe Der Jüngste Tag, sondern ebenfalls Der Golem von Gustav Meyrink erschien erstmalig im Kurt Wolff Verlag. Weitere in der Ausstellung behandelte Verlage sind die von Leo Jolowicz gegründete Akademische Verlagsgesellschaft (AVG), wo Wissenschaftler*innen wie Marie Curie oder Wilhelm Ostwald publizierten, und die zuvor von selbigem übernommene wissenschaftliche Sortiments- und Antiquariatsbuchhandlung Gustav Fock GmbH. Die wissenschaftliche Antiquariatsbuchhandlung List & Francke wurde hauptsächlich für ihre Versteigerungen mit internationalem Ansehen bekannt.

Die genannten Verlagsinhaber und hinter den Verlagen stehende Personen waren zwar alle jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, unterschieden sich jedoch in ihrem Bezug zur Religion teils stark – lediglich M. W. Kaufmann handelte mit religiösen Gütern und sah sich als explizit jüdischen Verlag. Dennoch wurden von den Nationalsozialisten spätestens nach der Progromnacht am 9. November 1938 keine Unterschiede mehr gemacht. Die Verlage als oftmals kulturell sehr bedeutsame Lebenswerke wurden zerstört bzw. „arisiert“, jede in der Ausstellung behandelte Familie hat Opfer der NS-Vernichtungsmaschinerie zu beklagen. Diskriminierung, Boykott und Enteignung der Verlage während der Zeit des Nationalsozialismus wurden am Ende der Ausstellung in Beispielen aufgeführt.

Die Präsentation schloss mit ergänzenden Ausblicken auf die Frage der Wiedergutmachung und Erinnerung während der DDR und nach der Wende. Die behandelten Verlage konnten sich bis 1989 nicht wieder in Leipzig ansiedeln, trotzdem erschienen in der DDR über 1000 Titel zu jüdischen Themen und Schicksalen. Zumindest die Edition Peters  ist heute wieder in Leipzig zuhause.

Der Film „Uns eint die Liebe zum Buch. Jüdische Verleger in Leipzig 1815 – 1938“ war bereits in der Ausstellung zu sehen.

Das Projekt

Die Gestaltung der Ausstellungstafeln durch Katharina Triebe erfolgte in Form von an der Decke befestigten hängenden Fahnen, bedruckt mit Texten und Reproduktionen historischer Bilder. Angereichert mit Objekten wie den Büsten von Henri Hinrichsen und Max Abraham (Leihgabe aus der Grieg-Begegnungsstätte), einem originalen Holzschild der AVG, einer Schellackplatte sowie einer großen Auswahl zeitgenössischer Buchausgaben, brachte die Ausstellung aufgrund des Nichtbespielens der Raumwände einen luftigen Charakter mit sich. Als Gegenpol zu den historischen Bildern auf den Ausstellungsfahnen wurden aktuelle Fotografien der (ehemaligen) Wohn- und Verlagsorte sowie von Grabmälern einiger Verleger von Silvia Hoffmann als Diashow auf eine Wand projiziert.

Videoprojektion in der Studioausstellung

Das auf besonders positive Resonanz gestoßene Highlight des Begleitprogramms stellte eine Radtour zu den ehemaligen Verlagsorten dar. An den Haltepunkten im Zentrum und im Graphischem Viertel gab es jeweils zunächst eine Lesung von kurzen belletristischen Texten bzw. Ausschnitten aus Firmen-Chroniken durch Clemens Böckmann sowie einen inhaltlichen Überblick zum Verlag durch Dr. Andrea Lorz und Dr. Johanna Sänger. Die drei Radtouren führten uns hierbei vom ehemaligen Zentrum des jüdischen Pelz-, Tabak- und Buchhandels auf der Ostseite des Brühls und der hier mehrmalig umgezogenen Buchhandlung M. W. Kaufmann, über den Leipziger Sitz des Kurt Wolff-Verlags an der Ecke Kreuzstraße/Inselstraße und das Karree des Musikverlags A.J. Benjamin am Täubchenweg/Ecke Göschenstraße, durch den Lene-Voigt-Park (ehemaliger Eilenburger Bahnhof) und vorbei an der Henriette-Goldschmidt-Schule zum ehemaligen Sitz der Akademischen Verlagsgesellschaft (AVG) in der Sternwartenstraße 8, bis hin zum berühmten Musikverlag Edition Peters in der Talstraße.

Ergänzend zur Ausstellung ist ein umfangreicher Sammelband im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen: Neben Beiträgen von Dr. Andrea Lorz, Dr. Erika Bucholtz (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin), Dr. Arndt Engelhardt (Simon-Dubnow-Institut), Michael Liebmann (Pro Leipzig e.V.) und Verlegerin Dr. Nora Pester (Hentrich & Hentrich) beinhaltet dieser eindrucksvolles Bildmaterial und einen historischen Stadtplan mit eingezeichneten ehemaligen Verlagssitzen. Die gleichnamige Publikation stellt neben unserem Film ein weiteres bleibendes Element zum Thema dar und gibt detailreiche Einblicke in die unterschiedlichen wieder sichtbar gemachten Verlagsgeschichten.

Unser Projekt wurde gefördert durch #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland e.V. und fand im Rahmen der Jüdischen Woche 2021 in Leipzig statt. Vom Visitors’ Programme for Former Jewish Leipzigers and their Descendants der Stadt Leipzig wurde die Video-Reihe „Object of the Day“  produziert, in der ein Überblick über die teilnehmenden Institutionen und die Veranstaltungen der Jüdischen Woche 2021 gegeben wird. Präsentation und Buch sind auch im Rahmen der Reihe zu sehen, in der im Leipziger Stadtmuseum in den letzten Jahren immer wieder Ausstellungen zur Jüdischen Woche gezeigt wurden. Darunter „L’dor v’dor – Von Generation zu Generation. Familie Chamizer aus Leipzig “ (2019) oder „Aus Leipzig – für Leipzig. Der Mäzen Peter Held und das Kaufhaus Held“ (2017).

Die Gestaltung der Ausstellung als Fahnen bringt eine besondere Mobilität mit sich und ermöglicht einen einfachen Transport sowie die Präsentation in anderen Räumlichkeiten. Wir hoffen sehr, die Ausstellung ein weiteres Mal mit ausgewählten Objekten zeigen zu dürfen – im besten Falle an einem Ort mit Buchbezug und breiter Öffentlichkeit.