Lieber Anders. Sub- und Jugendkulturen in der DDR

Ein neues Vermittlungsformat für Schulklassen, Jugendliche und junge Erwachsene

Beitrag von Tim Rood (ehem. Volontär Bildung & Vermittlung), Nathan Wild (Bundesfreiwilliger) und Ida Mahlburg (Volontärin der Öffentlichkeitsarbeit)

Wie bringt man heute Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Geschichte der DDR näher? Wie lässt sich, abgesehen von Jahreszahlen und politischen (Groß-)Ereignissen, ein Zugang in eine Zeit schaffen, die jüngere Generationen nicht mehr (bewusst) erlebt haben, die zugleich aber so nah ist?  Das Vermittlungsformat »Lieber Anders« richtet sich in erster Linie an Schulklassen und kann seit kurzem am Stadtgeschichtlichen Museum im Alten Rathaus gebucht werden. Es liefert Zugänge zu weniger bekannten Themen der DDR-Alltagskultur, indem es sich intensiv mit Jugendsubkulturen der DDR und Wendezeit auseinandersetzt. Der Begriff der Subkultur bezeichnet dabei eine von sozialen, kulturellen usw. Eigenheiten bestimmte Gruppe mit eigenen Normen und Werten, die sich z.T. bewusst von Normen des gesellschaftlichen Gesamtsystems abgrenzt. Subkulturen können freiwillig, aber auch unfreiwillig entstehen.

Punker auf dem Sachsenplatz, 1987, in der Ausstellung »Moderne Zeiten. Von der Industrialisierung bis zur Gegenwart«

»Lieber Anders« widmet sich bisher den Subkulturen Grufties, Punks, Skinheads, Kundinnen und Kunden und der Homosexuellen-Community in der DDR in einem zweistündigen Programm. Einerseits lernen Jugendliche hier unterschiedliche Jugend- und Subkulturen der DDR in den 70er und 80er Jahren sowie in der Wendezeit kennen, die in der bisherigen Geschichtsvermittlung wenig präsent sind. Diese verfolgten oftmals andere gesellschaftliche Ideale und Utopien und ihre Perspektiven unterschieden sich von bereits bekannteren Forderungen der Masse der Demonstrierenden während der Wende. Andererseits ermöglicht der Zugang über die Jugendkulturen auch einen Blick auf die Repressionsorgane und Jugendpolitik des SED-Regimes und den Alltag für Jugendliche in der DDR-Gesellschaft.

»Das kann man heute, glaube ich, auch gar nicht mehr so richtig erfassen, dass das Leben in der DDR viel geordneter war und wenn man anders ausgesehen hat war man damals eben ein Outlaw. Da wurde man überall negativ angeschaut, da wurde man angehalten von der Polizei.«

Willie Wildgrube (aus dem Zeitzeugeninterview zu Skinheads)

Die Vorbereitung des Vermittlungsformats umfassten intensive Recherchen, Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Besuche im Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig. Die Jugendkulturen bildeten einen Gegensatz zu einer von Staatsseite gewollt einheitlichen Jugendkultur, organisiert in Massenorganisationen wie Jungpionieren und FDJ, mit festgelegter Kleidung, Musik und Veranstaltungen. Punks, Grufties oder Kunden hingegen wurden nicht nur misstrauisch beäugt, sondern überwacht oder sogar eingeschüchtert und inhaftiert. Davon zeugen historische Quellen wie die »Übersicht über Erscheinungsformen negativ-dekadenter Jugendlicher in der DDR« , die Stasi-Beamte als Hilfsmittel nutzten.

Übersicht der Stasi zu Merkmalen von verschiedenen Jugendkulturen in der DDR, 80er Jahre, aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv, Signatur: BStU, MfS, BV Erfurt, KD Weimar, Nr. 1362, Bl. 30

Historische Stasi-Dokumente wie solche Handreichungen oder Überwachungsprotokolle sind in »Lieber Anders« wichtige Quellen. Schülerinnen und Schüler arbeiten aber auch mit spannende Objekte, die als authentische Zeugnisse direkt aus den Subkulturen kommen: Musik wie »Leipzig in Trümmern« von der Punkband L’Attentat, »Love Song« von The Cure oder »Messestadtpunk« von Wutanfall kommen ebenso zum Einsatz wie viele Fotos oder szenetypische Accessoires vom Button und silbernen Kerzenständer, über Jeans und Kreuzkette bis zur Perücke. Anhand der Objekte entsteht eine Annäherung an das Leben und den Alltag der Jugendlichen in der DDR. Was fällt den Schülern zu den Gegenständen ein und den damit verbundenen Gruppen ein?

Herzstück des Vermittlungsangebots sind Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die von ihrer Jugend in den jeweiligen Subkulturen berichten.

»Ich habe mich nie mit dem was da war zufriedengegeben und es ist so, dass man diese verbotenen Sachen hinterfragt und zu Schlüssen kommt, die nicht konform sind mit dem was einem die ganze Zeit erzählt wird. Es war ja klar, dass hier was schiefläuft, wenn man eingesperrt wird oder nicht hinfahren kannst wo man hinwill. Die Frage war nur: Was machst du dagegen?«

Thomas »Tommi« Schliephake (aus dem Zeitzeugeninterview zu Punks)

Die Schülerinnen und Schüler können sich mit Tablets Auszüge der Zeitzeugeninterviews ansehen, die jeweilige Subkultur aus Perspektive ihrer Mitglieder kennenlernen und anhand von Fragen ins Gespräch kommen. Die jeweilige »Szene« bekommt damit nicht nur ein Gesicht und eine Stimme, auch methodisch lässt sich hier einiges lernen. So kann diskutiert werden, inwiefern sich Zeitzeugengespräche als historische Quellen eignen und wo die Arbeit mit ihnen Grenzen hat.  Darüber hinaus sind die kompletten Interviews nun als »oral history« Teil der Sammlung des Museums und bleiben für die Nachwelt und weitere (wissenschaftliche) Projekte erhalten.

»Lieber Anders« bietet den Teilnehmenden eine Auseinandersetzung mit Minderheiten, Kritikerinnen und Kritikern und Menschen, die ihre Persönlichkeit in einem autoritären DDR-Staat öffentlich ausleben wollten, in dem Anpassung und Konformität erwartet wurden. Das Format erzählt auch von interessanten DDR-Alltags- und Wendegeschichten, die von geläufigen Narrativen abweichen. Durch die individuellen Beispiele können Jugendliche erfahren, dass Leben und Menschen in der DDR und der Wendezeit viele Nuancen hatten.

»Irgendwelche Politischen Meinungen und Aspekte haben bei allem Übergreifen von verschiedenen Kulturen und verschiedenen Kunstrichtungen in der Gruftieszene am Anfang überhaupt keine Rolle gespielt. […] Wir haben in unserem kleinen schwarzen Universum gelebt.«

Holger Schulze (aus dem Interviews zu Grufties)

Die Auseinandersetzung mit Jugendkulturen kann zudem ein Link sein, in die Geschichte der eigenen Familie, des sozialen Umfelds und der eigenen Stadt einzutauchen. Was haben die Eltern beispielsweise für Musik gehört, welche Kleidung getragen, wo sind sie angeeckt? Welche Ereignisse und Orte in Leipzig stehen mit dem Thema in Verbindung? Beispielsweise war die »Beatdemo« auf dem Leipziger Wilhelm-Leuschner-Platz 1965 eine der größten illegalen Demonstrationen in der DDR. Die Beat-Bewegung war die erste Untergrund-Szene in Leipzig und Ostdeutschland. Als neue und gradlinigere Form von Rock’n’Roll um 1960 in England entstanden, wurden Musik und Subkultur vom DDR-Regime anfangs noch geduldet. 1965 wurden 54 der 58 offiziell in Leipzig existierenden bzw. »registrierten« Bands (»Beatgruppen«) verboten – darunter die Butlers und Klaus Renft. Das veranlasste Anhängerinnen und Anhänger der Beat-Musik dazu eine große Demo auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz zu veranstalten, die gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die DDR führte nach diesem Ereignis den Begriff des »Rowdytums« als Straftatbestand ein, hiernach wurden noch oft Angehörige von Subkulturen verurteilt. Auf die Demo folgte eine Wende in der DDR-Kultur- und Jugendpolitik – bis in die 1970er Jahre wurde Beat-Musik offiziell verboten.

Polizeieinsatz zur Beatdemonstration auf dem Leipziger Markt, 31. Oktober 1965: Menschen und Polizisten, aus dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Leopold Kullrich_Foto 016-001-001
Aufruf zum Protestmarsch in der Ausstellung »Moderne Zeiten«

Die Auseinandersetzung mit früheren Jugendkulturen ermöglicht zudem den Brückenschlag ins Heute und ein Gesprächsangebot: Kennen die Teilnehmerinnen Subkulturen, sind sie selbst Teil von einer? Wie können Subkulturen in Demokratien oder Diktaturen wirken, wie in sozialistischen, wie in kapitalistischen Gesellschaftsformen? Und wie steht es um die Subkulturen aus DDR- und Wendezeit heute?

»Die Szene in den 80er Jahren war viel sozialer auch in einer mehr geschlossenen Gemeinschaft als sie heute ist. Heute kann ich nicht mehr von einer queeren Szene sprechen, weil sie so vielschichtig geworden ist und sich in so viele Kategorien aufgespalten hat, gegen die in der Vergangenheit einheitlich gekämpft wurde, also wieder Kategorien zu schaffen und Menschen wieder nach Kategorien einzuordnen.« 

Kathrin Darlatt (aus dem Interview zur queeren Szene)

Nicht zuletzt bietet das Format die Möglichkeit zur Erweiterung um andere Subkulturen.

Das Vermittlungsangebot »Lieber Anders. Sub- und Jugendkulturen in der DDR« wurde von Tim Rood, Clara Wübbeke und Nathan Wild recherchiert, entwickelt und gestaltet. Besonders die Durchführung der Interviews und die Aufarbeitung der Videos für Sammlung und in gekürzter Form für die Arbeit mit Jugendlichen waren dabei besonders aufwendig. Wir danken allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Geschichte für das Vermittlungsformat und die Aufbewahrung im Museum erzählt haben.


Weitere Informationen und Termine können beim Vermittlungsteam unter vermittlung.stadtmuseum@leipzig.de angefragt werden.

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