Machtzentrum Leipzigs und authentische Bachstätte: Der neue Bach-Parcours im Alten Rathaus
Johann Sebastian Bach ist als weltberühmter Komponist die Leitfigur der Leipziger Musikgeschichte. Er war aber zugleich städtischer Amtsträger, Schullehrer und Orchesterleiter und auf vielfache Weise mit dem Leipziger Alltagsleben verbunden. Ohne den Stadtrat, die Universität, die Kirchenoberen und privaten Auftraggebern sowie die Thomaner und Stadtmusiker hätte Bach sein unschätzbares Werk nicht erschaffen und aufführen können. Das Alte Rathaus Leipzig ist als ehemaliger Sitz der Stadtverwaltung und Zentrum des öffentlichen Lebens der perfekte Ort, um in kompakter Form das städtische Umfeld sowie die dienstlichen Voraussetzungen und persönlichen Verflechtungen von Bachs Leipziger Zeit zu erkunden, was nun mit dem BACH-PARCOURS als digitaler Rundgang auf dem eigenen Smartphone möglich ist.
Das 1909 Museum gewordene Alte Rathaus war seit dem Mittelalter Verwaltungszentrum der Stadt. Hier wurden bis zum Umzug in das 1905 eingeweihte Neue Rathaus politische Weichen gestellt. Die historische Festsaaletage ist damit auch Erinnerungsstätte an die dort getroffenen kulturpolitischen Entscheidungen. Damit aber ist das Alte Rathaus die perfekte Bühne, um Bachs Einbindung in die städtischen Dienststrukturen und Personalgeflechte nachzugehen. Bedauerlicherweise sind in Leipzigs Innenstadt nach dem Abriss der Thomasschule 1902 jenseits der Kirchen St. Nikolai und St. Thomas sowie des 1985 eingerichteten Bach-Museums im Bosehaus kaum noch authentische Orte vorhanden, die auf Bachs Leben und Schaffen verweisen. Die Realisierung des BACH-PARCOURS im Alten Rathaus macht nun dieses Gebäude erstmals als originäre Bachstätte erlebbar.
1723 wurde Bach hier in Leipzig zum Thomaskantor gewählt, unterschrieb die Vertragspapiere und leistete seinen Amtseid. Während einer 27jährigen konfliktreichen Wirkungszeit rangen Bach und die Vertreter des Rates um schulische Dienstpflichten und künstlerische Rahmenbedingungen.
Für die jährliche Ratswahl am Bartholomäustag und die in Leipzig häufig anwesende landesherrliche Familie schuf Bach bedeutende Werke und führte sie teils direkt auf dem Marktplatz auf. Nach 1750 entschieden Leipziger Ratsherren über die Versorgung der Witwe Anna Magdalena und der hinterbliebenen Kinder. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Alten Rathaus über die Geschicke der Musikstadt Leipzig und die Pflege des Bachschen Erbes entschieden – genug Stoff, um mit dem BACH-PARCOURS einen eigenen Themenschwerpunkt im Museum zu etablieren. Zudem bieten viele Museumsobjekte im Alten Rathaus einen Anschluss an das Lebens- und Arbeitsumfeld Bachs.
Dazu gehört das große Stadtmodell (1823) von Johann Christoph Merzdorf, das das noch nicht modernisierte alte Leipzig zeigt und daher bereits für eine digitale Anwendung des Bach-Archivs genutzt wurde. Damit lassen sich sowohl die räumlichen Bezugspunkte Bachs von den vier Hauptkirchen und dem Rathaus bis zur Thomasschule, dem Zimmermannischen Coffeehaus sowie der Pauliner- und Friedhofskirche überschauen als auch die Herausforderung verstehen, die Bach bei seinem Wechsel von kleinen mitteldeutschen Residenzstädtchen in die »theure« Messemetropole zu meistern hatte.
Die auf den Umbau 1556 zurückgehende Musikempore im Festssaal ist Zeugnis der alten Leipziger Stadtmusik, wobei die Enge dieses »Pfeiferstuhls« verdeutlicht, warum deren begrenzte Planstellen für Bachs musikalische Ambitionen niemals ausreichen konnten. Mit den Stadtrichterbildnissen von Abraham Christoph Platz, Christian Ludwig Stieglitz, Jacob Born d. J. und Gottfried Wilhelm Küstner treten mindestens vier jener Ratsherren den Besuchern auf Augenhöhe gegenüber, die für Bachs Leipziger Wirkungszeit eine schicksalhafte Rolle gespielt haben. Nur wenige Meter entfernt hängen die für Bachs Karriere und etliche seiner Huldigungskantaten ebenso relevanten Landesherren Friedrich August I. und Friedrich August II.
Im Südflügel gestatten es Einrichtungsgegenstände der alten Nikolaikirche, diese als Ort des Ratskirchgangs und gleichrangige Aufführungsstätte Bachs zu rehabilitieren und damit die aus der Rezeptionsgeschichte erklärbare Wahrnehmung von St. Thomas als »der« Leipziger Bachkirche auszubalancieren. Das von Lucas Cranach d. J. stammende Lutherporträt verweist auf dessen besondere Hochschätzung der gottesdienstlichen Musik, der der protestantische Kantoren- und Organistenstand und damit auch Bach seine Aufwertung und Daseinsgrundlage verdankten.
Die Kanzel der Friedhofskirche St. Johannis (V. Silbermann, 1586/87) gibt Gelegenheit, auf die Bedeutung von Tod und Sterben im Leben und Werk Bachs hinzuweisen. Das auf den gekreuzigten Christus und die Ablösung des alten Gesetzesbundes durch das doppelte Liebesgebot des Neuen Testamentes gegründete Bildprogramm der geschnitzten Kanzel zwingt zugleich dazu, über den antijüdischen Kontroverscharakter der entsprechenden Bibelvertonungen nachzudenken. Welche Rolle die Heilige Schrift als Quelle des Trostes und der Inspiration sowie Beglaubigungsinstanz bei Rechtsakten für Menschen des Barock spielte, verdeutlicht die verzierte Eidbibel des Leipziger Rates. Dass sie auch bei Bachs Dienstantritt in dieser Funktion verwendet wurde, ist zumindest denkbar.
Am anderen Ende der Etage betritt man mit der Ratsstube die Herzkammer der alten Leipziger Stadtverwaltung. Der jüngst restaurierte Aktenschrank sowie der Beratungstisch des Rates verweisen auf die im Vorfeld der Wahl Bachs getroffenen Abwägungen. Daß dieser genau hier am 5. Mai 1723 seinen Dienstantritt besiegelte, wird im Rahmen des Parcours nicht mehr in der früher etwas plakativen Weise via Faksimile-Auslage vermittelt – vielmehr werden in einer neuen Digitalanwendung auch die von Michael Maul detailliert rekonstruierten »Fallstricke« des Vertrages thematisiert. Der bereits 2018 eingerichtete Bach-Raum mit dem berühmten Haußmann-Porträt erfährt eine inhaltliche Vertiefung. Dabei wird besonders auf die Beziehung Bachs zu dem ebenfalls mit einem Haußmann-Gemälde präsenten Stadtpfeifer-Senior Gottfried Reiche sowie auf die Umstände von dessen Tod am Folgetrag der Aufführung von Bachs Festkantate BWV 215 eingegangen.
Neben diesen Objektklassikern enthält der Parcours auch überraschende Verknüpfungen. So wird in der Abteilung »Stadt im Krieg« eine Klageschrift über die preußische Besatzung Leipzigs im Siebenjährigen Krieg genutzt, um mit Blick auf die dadurch stockenden städtischen und universitären Almosenzahlungen auf die Situation Anna Magdalena Bachs nach 1750 einzugehen und damit in einer sehr männerlastigen Dauerausstellung eine Brücke zu dieser besonderen Frau zu schlagen. Die auf die Schneide des Leipziger Richtschwertes gravierte und Bachfreunden natürlich bekannte Devise »Soli Deo Gloria« zeigt die Einbettung allen obrigkeitlichen Handelns in eine religiöse Letztbegründung und verweist auf das Singen der Thomaner auch bei Hinrichtungen.
Eine Zusatzstation leitet in die Abteilung »Musikstadt Leipzig in der Moderne« im 2. Obergeschoss, in der neben dem Wirken Mendelssohns ein Modell der Thomaskirche sowie Objekte zur Geschichte der Thomaner gezeigt werden. Der auf Anfrage auch als Führung buchbare Parcours funktioniert als Videorundgang, der nach einem animierten Einstieg jede Station zusätzlich mit Klangbeispielen ausstattet, die sich der freundlichen Unterstützung der J.S. Bachstiftung St. Gallen verdanken. Anders als klassische Museumsguides bedarf es keiner Geräteleihe – vielmehr können sich alle Besuchenden anhand des am Kassentresen auf Deutsch und Englisch erhältlichen Faltplans sowie der Markierungen im Raum orientieren und den Rundgang über einen im Flyer gedruckten QR-Code für ihr eigenes Smartphone freischalten. Dass der Parcours dem Alten Rathaus neue Besucherkreise und zugleich der internationalen Bach-Community einen zusätzlichen Erlebnisort in Leipzig erschließt, ist Ziel des im Rahmen des Jubiläums »Bach 300« geförderten Projektes, mit dem das Alte Rathaus zugleich ein Stück augenzwinkernde Wiedergutmachung für die einst Bach von seinen Dienstherren aufgebürdeten »Hudeleien« leistet.
Der anlässlich der 300sten Wiederkehr von Bachs Amtsantritt 2023 konzipierte BACH-PARCOURS folgt digital an 19 Stationen den Spuren des Komponisten und thematisiert anhand kostbarer Originalobjekte in der ständigen Ausstellung im Alten Rathaus Leipzig zentrale Bereiche seines Leipziger Lebens und Wirkens. An der Ticketkasse erhalten die Gäste ihren persönlichen Führungsplan, nehmen ihr Smartphone zur Hand und entdecken auf dem Weg durch die Ausstellung den genialen Künstler Bach auch als Kind seiner Zeit, verletzlichen Menschen und streitbaren Angestellten.
Altes Rathaus
Markt 1
04109 Leipzig
Dienstag–Sonntag, Feiertage 10–18 Uhr
24.12. und 31.12. geschlossen
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