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„Sinfonie der Menschheit“

1824 wurde in Wien die letzte vollendete Sinfonie und das wohl bekannteste Werk Ludwig van Beethovens uraufgeführt, die 9. Sinfonie. Als Textvorlage für den in Kantatenform angelegten Finalsatz wählte er an „An die Freude“ von Friedrich Schiller, dessen Urfassung 1785 im Leipziger Schillerhaus entstand. Das von hohem Pathos geprägte Gelegenheitsgedicht war eigentlich als Trinklied seinen Freunden und Gönnern gewidmet, allen voran seinem ersten Gesamtverleger Christian Gottfried Körner. Als Ausdruck des damaligen Zeitgeistes, der Zusammenhalt und Freundschaft als höchste Güter pries, wurde das Gedicht in gekürzter Form mehrfach vertont – die Version Ludwig van Beethovens erlangte schliesslich Weltruhm. 

Das Leipziger „Arbeiter-Bildungs-Institut“ (ABI) unter dem legendären Dirigenten Barnet Licht kam 1918 auf den Gedanken, das erste „Friedenssilvester“ nach Ende des Ersten Weltkrieges in besonderer Weise zu feiern. In der 3.000 Plätze fassenden Alberthalle des Leipziger Krystallpalastes sollten Arbeitende den Jahreswechsel mit der Aufführung der 9. Symphonie Beethovens als „Friedens- und Freiheitsfeier“ erleben – mit 100 Orchestermusikern und 300 Choristen des Städtischen Theater- und Gewandhaus-Orchesters, des Bach- und des Riedelvereins und des Gewandhaus-Chores. Unter Leitung des Gewandhauskapellmeisters Arthur Nikisch begrüßten so mehrere tausend Menschen das erste Jahr des Friedens; pünktlich um Mitternacht setzte der Schlusschor mit der Ode „An die Freude“ an.

In Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis verfasste und entwarf Gerhard Seger 1919 eine aufwendig gestaltete Festschrift mit handkolorierten Initialen in einer Auflage von 100 Exemplaren. Der Prachtband – das Exemplar im Museum trägt die Nummer 19 – zeigt in beeindruckender Weise den symbolischen Rang der Veranstaltung für die Leipziger Arbeiterschaft. Seger selbst bezeichnet das Werk van Beethovens euphorisch als „Sinfonie der Menschheit“. Hergestellt in der Kunsthandlung Heinrich Jütte mit Unterstützung der Buchbinderei Johannes Mägerlein (Einbandanfertigung) und verlegt bei Karl Wilhelm Hiersemann, drückt das Buch die Bedeutung des Konzertes aus – in einer Zeit der Hoffnung und des Aufbruches.

Zwischen 1956 und 1964 war „An die Freude“ bei den Olympischen Spielen übrigens Hymne der gesamtdeutschen Mannschaft, die auch 1968 noch für die getrennt antretenden deutschen Teams gespielt wurde. Seit 1972 offizielle Europahymne, wird die Ode zu denkwürdigen Anlässen und in den letzten Jahren auch bei Flashmobs immer wieder aufgerufen – zuletzt am Abend des 22. März 2020 während der Corona-Epidemie. Einem deutschlandweiten Aufruf folgend musizierten dabei Musiker und Künstler auch in Leipzig von Fenstern, Balkonen und Türmen aus für ihre Nachbarn.

Signatur Bibliothek: 2120
Dem verehrten Meister Arthur Nikisch in Dankbarkeit, Leipzig 1919


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