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Berechenbare Weltbilder

Exponentialkurven, Reproduktionskoeffizienten und Wahrscheinlichkeitsberechnungen – kaum je in unserer Erinnerung war eine Zeit zugleich so bedrängt und fasziniert von mathematischen Modellen wie die Coronakrise. Vieles von dem, mit dem wir Nachrichtenkonsumenten unübersehbar laienhaft und die meist weißgekleideten Experten – hoffentlich – etwas kundiger umgehen, hat dabei mit dem Werk eines 1646 in Leipzig geborenen und 1716 in Hannöverschem Hofdienst gestorbenen Wissenschaftlers zu tun, den manche als das letzte Universalgenie überhaupt ansehen – Gottfried Wilhelm Leibniz, seines Zeichens Mathematiker und ebenbürtiger Rivale Newtons, aber auch Bibliothekar, Jurist, Diplomat, Historiker und Theologe. Gerade die gegenwärtig zu beobachtende Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Annahmen mit moralischen Aussagen und vernunftmäßigen Verhaltensregeln sowie die noch immer zu selten geleistete Zusammenschau multidisziplinärer Phänomene von Klimaveränderung und aufgeschobenem Strukturwandel bis zu Generationengerechtigkeit und Freiheitsverständnis würde Leibniz‘ weitem Horizont gefallen und seiner von Populäraufklärern wie Voltaire zu Unrecht verspotteten systemischen Kosmologie sogar bedürfen.

In welchem Kontext das beidseitig beschriebene Blatt mit seinen Rechensystemen, verschiedenen Zahlenarten (umseitig) sowie lateinischen Beschreibungen entstand, können wir mangels näherer Untersuchungen noch gar nicht sagen. Dass es einer Autographensammlung und damit mehr dem Interesse an der prominenten Hand als an komplizierten Inhalten entstammt, wird durch die mit etwas rücksichtsloser Rötelschrift ergänzte Zuschreibung „Leibnitz“ allerdings überdeutlich. Als Zeugnis eines zahlengestützt überprüfbaren Denkens lange vor allen Computerberechnungen verdient es unseren Respekt und unsere Neugier. Dass namhafte Absolventen der am Leipziger Nordplatz gelegenen Leibniz-Oberschule – darunter ein bekannter Kabarettist sowie ein Museumsdirektor mittleren Alters – zu seiner Entschlüsselung substantiell beitragen können, dürfte hingegen auch jenseits Leibniz‘scher Ableitungskunst eine wenig wahrscheinliche Annahme sein…

Inv.-Nr. A/2014/2975
Mathematisches Manuskript mit lateinischen Bemerkungen, (Gottfried Wilhelm) Leibniz, vor 1716


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