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Zentimeterweise in die Freiheit

Quarantäneartige Erfahrungen gab und gibt es nicht nur in Pandemieepochen. Auch andere Zwangsperioden sowie insbesondere nicht freiwillig abgeleistete Dienstzeiten haben vergleichbare Erfahrungen und entsprechende Rituale ihrer kreativen Bewältigung provoziert. Ein besonderes Kapitel dieser Geschichte bildete der Wehrdienst in der Volksarmee der DDR, dessen Ende nach 18 Monaten oder drei Jahren von den Betroffenen aufrichtig herbeigesehnt wurde. Zu den zugehörigen Usancen gehörte die Anfertigung eines Maßbandes, mit dem die verbleibenden Tage nach und nach zentimeterweise abgeschnitten wurden. Wiewohl offiziell verboten und bei Entdeckung streng bestraft, bildeten sich darum bei den anstehenden Entlassungskandidaten allerlei Gebräuche, die vor allem den erst neu zum Wehrdienst eingezogenen „Frischen“ oder auch „Glatten“ aufgebürdet wurden.

Auf den ersten Blick ein harmloser Würfel – der auf der Soldatenstube auch sonst zu allerlei Trink- und sonstigen Spielen gebraucht werden konnte –, offenbart unser Objekt bei genauem Hinsehen seine wahre Bestimmung: In den extra ausgehöhlten Holzkörper war ein Maßband eingelassen worden, so dass der Besitzer – ein an der Grenze bei Berlin eingesetzter Leipziger Wehrpflichtiger – seinen bei den Soldaten als regelrechtes „Heiligtum“ geltenden Zeitmesser stets versteckt bei sich tragen konnte. Mit passenden Sprüchen und Hinweisen auf die baldige Entlassung („Es klingt wie eine Sage nur noch … Tage“) sowie den Namen der Zimmergenossen versehen, wurde das Würfel-Maßband nach der Entlassung nicht wie viele Vergleichstücke rituell zerstört, sondern gelangte in eine dem Museumsteam verbundene Leipziger Privatsammlung. Voraussichtlich im Herbst 2021 wird das Stück dann im Rahmen einer Sonderschau zur Geschichte des Würfelspiels und der Leipziger Automatenproduktion gezeigt.

Sammlung Jakob Gloger, Leipzig
Würfel mit eingelassenem Maßband, angefertigt im Wehrdienst, 1973

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